Euro-Krise Anatomie eines Beinahe-Crashs

Europa hat in den Abgrund geschaut: Anfang Mai wäre das Finanzsystem fast zusammengebrochen. Eine alarmierende Analyse der Europäischen Zentralbank macht klar, wie dramatisch die Lage war. Zeitweise herrschten Zustände wie nach dem Lehman-Crash - und auch jetzt sind nicht alle Gefahren gebannt.
EZB-Zentrale in Frankfurt: Extremsituation am Bankenmarkt

EZB-Zentrale in Frankfurt: Extremsituation am Bankenmarkt

Foto: A3796 Uwe Anspach/ dpa

Hamburg - Stand der große Knall im Weltfinanzsystem Anfang Mai unmittelbar bevor? Die Europäische Zentralbank (EZB) skizziert in ihrem aktuellen Monatsbericht ein Horrorszenario. Die europäische Finanzwelt ist nur knapp an einem Zusammenbruch vorbeigeschrammt, steht in der Analyse (siehe PDF links). Den Anleihen-, Interbanken-, Aktien- und Devisenmärkten habe der Kollaps gedroht.

An manchen dieser Märkte sei die Situation im Mai 2010 gar schlimmer gewesen als nach dem Crash der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008, dem Auftakt zur weltweiten Finanzkrise. Nur das beherzte Eingreifen der EZB habe Anfang Mai das Schlimmste verhindert - schreibt die EZB.

Das bedeutet zunächst einmal: Europas mächtigste Zentralbank liefert nachträglich eine umfassende Begründung für ihr unkonventionelles Vorgehen in den vergangenen Wochen. Um Griechenland zu helfen, hatte sie eine eherne Regel gebrochen, der zufolge sie nur Staatsanleihen mit einem befriedigenden Rating kauft. Nun plötzlich nahm die EZB auch griechische Anleihen mit Ramschstatus (siehe Kasten links) in Milliardenhöhe - und EZB-Chef Jean-Claude Trichet stand schlagartig im Kreuzfeuer der Kritik.

Die Maßnahme schade der Glaubwürdigkeit der Notenbank, sagte EZB-Experte Michael Schubert von der Commerzbank. Bundesbank-Präsident Axel Weber, selbst EZB-Ratsmitglied, kritisierte den riskanten geldpolitischen Schwenk. Manche sahen in dem Schritt eine Warnung, dass Schlimmeres dräut: "Die EZB hat eines ihrer hehren Prinzipien über Bord geworfen", sagte seinerzeit Thorsten Polleit, Chefvolkswirt von Barclays Capital. "Das zeigt, dass die Lage sehr, sehr ernst ist."

"Schwere Störung der Märkte"

Der EZB-Monatsbericht untermauert nun genau dies. Von einer "schweren Störung der Märkte" ist die Rede. "Wenngleich sich diese Verwerfungen aus einer anderen Konstellation von Schocks ergaben als die verstärkten Spannungen nach der Insolvenz von Lehman Brothers, lassen sich in mancherlei Hinsicht Parallelen ziehen", schreibt die EBZ. "Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Geschwindigkeit, mit der die Stimmung umschlug, sowie mit Blick auf die jähe Flucht der Finanzinvestoren in sichere Anlagen."

Am Bankenmarkt drohte der EZB zufolge eine dramatische Kettenreaktion. "So stieg die Wahrscheinlichkeit eines gleichzeitigen Zahlungsausfalls von zwei oder mehr großen Banken des Eurogebiets sprunghaft an und überschritt die nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers beobachteten Werte", steht in dem Papier. Welche Banken akut pleitegefährdet waren, teilte die Bank nicht mit - bekannt ist, dass vor allem die deutsche Hypo Real Estate und einige französische Banken Anfang Mai viele Griechen-Anleihen in ihren Portfolios hatten.

Der Bericht liest sich untypisch dramatisch. Das oberste Gebot einer Zentralbank ist, Ruhe in die Märkte zu bringen. Angesichts der scharfen Kritik am geldpolitischen Kurs der EZB drängt sich also die Frage auf, ob sie die Ereignisse Anfang Mai in einem besonders dramatischen Licht erscheinen lässt, um die eigenen Aktionen nachträglich zu rechtfertigen. Die Bank weist das zurück, und auch unabhängige Experten halten den Monatsbericht nicht für übertrieben. "Die Nervosität an den Märkten ist seit September 2008 erhöht", sagt Hans-Peter Burghof, Bankenprofessor an der Universität Hohenheim. "Störungen wie das griechische Drama lassen die Angst der Anleger schnell auf ein Niveau emporschnellen, das für die Märkte bedrohlich werden kann. Am 7. und 8. Mai war dieses Niveau erreicht."

Mehrere Parallelen zum Lehman-Crash

Für die EZB-Einschätzung spricht außerdem, dass auch die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) Anfang Mai reagierten - sie legten am Wochenende des 8. und 9. Mai in einer Hauruckaktion den Grundstein für einen 750-Milliarden-Euro-Rettungsfonds, der in Not geratene EU-Staaten künftig kurzfristig auffangen kann. Angetrieben wurden sie von der Angst, dass Montagnacht bei Öffnung der asiatischen Aktienmärkte ein beispielloses Börsenbeben passiert. Die Politik wollte ein starkes Signal an die Märkte schicken, damit der Kollaps verhindert wird.

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Grafik-Strecke: Europa drohte Finanzkollaps

Foto: Datastream

Die EZB liefert dafür in ihrem Bericht viele Belege dafür, das die Befürchtungen begründet waren. Sie stützt sich auf Indikatoren, die nicht sie selbst erhebt, sondern unabhängige Finanzexperten:

  • Staatsanleihen: Deutschlands Staatsanleihen haben von allen Euro-Staaten die niedrigsten Zinsen, weil die Bundesrepublik als ungefährdeter Schuldner gilt - alle anderen Länder müssen höhere Zinsen an ihre Gläubiger zahlen. Diese Aufschläge gegenüber den deutschen Staatsanleihen (Spreads) wurden am 6. Mai rapide größer. Die Risikoaufschläge für griechische Staatsanleihen erreichten einen Rekordstand, bei dem es dem Land nach Meinung vieler Experten nicht mehr möglich gewesen wäre, Anleihen am Markt zu platzieren. Auch portugiesische, spanische und irische Anleihen kamen unter Druck. Panik drohte sich breitzumachen - an den Märkten ging die Furcht um, dass auch andere Länder mit Schuldenproblemen in eine tiefe Krise rutschen könnten, weshalb plötzlich enorme Zinsen verlangt wurden.
  • Interbankenmarkt: An diesem Markt leihen sich die Banken gegenseitig Geld - eine Sache des gegenseiten Vertrauens der Geldhäuser, und hier verknappten sich in jenen Tagen in Rekordzeit die verfügbaren Mittel. Viele Banken halten griechische Staatskredite in Milliardenhöhe. Sie bekamen durch das Drama an den Anleihemärkten plötzlich selbst immer schwerer Kredit, denn ihr eigener Ruf war durch die Probleme mit den Staatsanleihen ins Zwielicht geraten. Selbst der Handel mit Kurzzeitkrediten (eine Woche oder weniger) war plötzlich gestört. Die EZB erachtete das als "besonders besorgniserregend": "Im gesamten Eurogebiet war der Zugang der Banken zur Marktfinanzierung erheblich beeinträchtigt."
  • Kreditversicherungen: Mit Kreditversicherungen sichern sich Banken gegen Ausfälle ab - und der Handel mit diesen Papieren verschlechterte sich in jenen Tagen ebenfalls rapide. Der iTraxx-Senior-Financials-Index verzeichnete Anfang Mai höhere Werte als nach dem Lehman-Crash. Bei diesem Index handelt es sich um ein standardisiertes Kreditderivat zur Absicherung gegen Kreditrisiken, das 25 solvente Finanzkonzerne umfasst.
  • Börsen: Die steigende Nervosität an den Anleihen- und Interbankenmärkten löste am 6. und 7. Mai eine Verkaufswelle an den Aktienmärkten der Euro-Staaten aus. Finanzaktien waren besonders stark betroffen, doch die Angst der Anleger schwappte auf andere Bereiche über. Die Märkte wurden sprunghaft unsicher, noch verstärkt durch den plötzlichen Einbruch des Dow Jones um rund 9 Prozent am 6. Mai - der vermutlich auf einen Technikfehler zurückzuführen war.
  • Devisen: Die Anleger begannen, hektisch mit Währungen zu handeln. Über das CLS, das weltweit größte Abwicklungssystem für Devisen, wurden am 7. Mai mehr als 1,5 Millionen Transaktionen abgewickelt - tagelang war das Handelsvolumen mehr als doppelt so hoch wie normal. Das System war dem Ansturm nicht gewachsen, die Abwicklung verzögerte sich. Es wurden Bedenken laut, ein größeres systemisches Problem könne die Verzögerungen bedingt haben - "die Situation wies gewisse Ähnlichkeiten mit der Situation am 17. September 2008 (Lehman-Crash, d.Red.) auf, als die Zahl der Transaktionen in die Höhe schnellte", schreibt die EZB.

Die Folgen der Finanzturbulenzen von Anfang Mai sind bis heute spürbar. Und auch sie ähneln den Folgen des Lehman-Crashs: Die Aktien- und Devisenmärkte haben sich zwar schon wieder erholt, aber der Interbankenmarkt hat noch enorme Probleme. Viele Institute legen ihre überschüssigen Euros mittlerweile wieder bei der EZB an. "Wir haben erneut die Situation, dass sich die Banken untereinander nicht vertrauen", sagte EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark kürzlich der "Zeit".

Mit deutlichen Worten hat an diesem Freitag auch Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia vor neuen Risiken für die Banken gewarnt: Vor allem in Griechenland und Spanien könnten einige Institute in Schwierigkeiten geraten. Um Klarheit über die Situation der Geldhäuser und am Ende wieder Vertrauen herzustellen, hat die EU in einem einmaligen Schritt beschlossen, Stresstests der Institute zu veröffentlichen - in diesen Analysen werden die Unternehmen auf Belastbarkeit untersucht.

Vieles spricht dafür, dass Europa Anfang Mai gerade noch einen Kollaps der Märkte verhindert hat - aber die Gefahr ist nicht gebannt. Die Frage bleibt, ob die beschlossenen Hilfspakete tatsächlich eine neue Bankenkrise verhindern können. Wenn nein, müssen die ohnehin verschuldeten Regierungen vielleicht schon bald wieder eingreifen - und die Geldinstitute retten.

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