Euro-Krise Mythos vom faulen Südeuropäer

Rentner in Griechenland: So früh in den Ruhestand wie die Deutschen
Foto: Thanassis Stavrakis/ ASSOCIATED PRESSHamburg - Wie sich die Zeiten ändern: Vor wenigen Jahren war Deutschland der kranke Mann Europas. Die Republik der fünf Millionen Arbeitslosen galt als verkrustet, die Hoffnung auf Besserung schien angesichts des riesigen Reformstaus aussichtslos. Welche internationalen Vergleiche auch immer die Debatte um den Standort bestimmten, die Deutschen kamen schlecht weg. Zu viel Urlaub, zu hohe Gehälter, zu früh in Rente, zu wenig Arbeitsanreize für Joblose - und sonntags nicht mal frische Brötchen.
Und nun, da die viertgrößte Wirtschaftsnation der Welt boomt, stehen andere Euro-Staaten vor der Pleite. Wird Geld innerhalb Europas verteilt, schultert die Bundesrepublik den größten Brocken. Und weil das noch ein paar Jahre so weitergehen dürfte, die Deutschen ihr Geld im Süden Europas versickern sehen, zeigt eine selbstbewusste Kanzlerin auf die Empfänger - und mahnt dringende Reformen an.
Zur Frage, was die taumelnden Krisennationen tun müssen, um von Deutschland Milliarden zum Überleben zu erhalten, wird Angela Merkel am Mittwoch so zitiert: "Es geht auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen - das ist wichtig." Zudem kritisierte Merkel die Südländer indirekt als besonders urlaubsfreudig: "Wir können nicht eine Währung haben und der eine kriegt ganz viel Urlaub und der andere ganz wenig. Das geht auf Dauer auch nicht zusammen."
Weniger kanzlerisch ausgedrückt heißt das: "Wir werden kein gutes deutsches Geld mehr für faule Südeuropäer geben." Es klingt ein bisschen nach anstrengungslosem Wohlstand, den Deutschland finanziert. Das sind, nicht so sehr im Inhalt, dafür umso deutlicher im Tonfall, durchaus neue Ansagen aus Berlin. Und weil sie populär sein dürften, stellt sich die Frage, ob sie vielleicht sogar populistisch sind. Anders gefragt: Hat Merkel Recht?
Die Antwort lautet Jein. Dass die Fast-Pleitestaaten Griechenland und Portugal ähnlich wie das vom Vertrauensentzug der Märkte bedrohte Spanien massive ökonomische Probleme haben, ist unbestritten. Die Länder haben zu lange über ihre Verhältnisse gelebt. Und sie nahmen es hin, dass ihre Wirtschaft zunehmend Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat.
Eine Statistik des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass die Konsumausgaben und Investitionen in den drei Staaten im abgelaufenen Jahrzehnt höher waren als das Bruttoinlandsprodukt. Verbraucht und investiert ein Land mehr als es selbst erwirtschaftet, muss es sich im Ausland verschulden. Das ist mittelfristig unvorteilhaft - zumal wenn, wie geschehen, ein beträchtlicher Teil der ausländischen Kredite verkonsumiert und eben nicht investiert wird. Das nennt man gemeinhin Leben auf Pump.
Seit Jahrzehnten zu wenig Exporte
Wie sehr Griechenland, Portugal und Spanien an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt haben, zeigt sich an ihrer jeweiligen Leistungsbilanz. Diese vergleicht den Export von Waren und Dienstleistungen mit dem Import. Ist das Ergebnis negativ, führt eine Volkswirtschaft mehr ein als sie ausführt. Sie kauft also viel im Ausland, verkauft aber nicht so viel dorthin. Deshalb ist eine negative Leistungsbilanz ein Indiz dafür, dass die Produkte eines Landes auf den globalen Märkten unattraktiver sind als die von Konkurrenten.
Griechenland steht im Vergleich der drei Länder am schlechtesten da: Seit Jahrzehnten weist es nur deutlich negative Leistungsbilanzen auf. In den vergangenen Jahren hat sich die Lage zudem immer mehr verschlechtert. Spanien und Portugal geht es nur unwesentlich besser. Sie verzeichneten vor dem Beitritt zur Euro-Zone immerhin noch ab und zu Überschüsse in der Leistungsbilanz, seit 1999 sind aber auch diese Zeiten passé. Zumal das Minus immer größer wurde.

Statistik: Vorurteile im Faktencheck
Der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit geht vor allem auf den drastischen Anstieg der Lohnstückkosten zurück (siehe Fotostrecke). Diese Kennziffer misst, wie sich die Arbeitskosten je Arbeitnehmer im Verhältnis zu der erbrachten Leistung entwickelt haben. Steigen die Lohnstückkosten, bedeutet dies: Die Löhne legen schneller zu als die Produktivität. Das Preis-/Leistungsverhältnis der Produkte nimmt ab. Entsprechend finden sich weniger Käufer.
Auch bei der Entwicklung der Lohnstückkosten schneidet Griechenland am schlechtesten ab. Sie waren 2009 rund 40 Prozent höher als noch im Jahr 2000. In Spanien lag das Plus bei ebenfalls stolzen 31 Prozent, in Portugal immerhin noch bei 27 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland stieg der Wert im gleichen Zeitraum nur um 7 Prozent.
Verschärft wurde die Lage des griechischen Haushalts dadurch, dass der Staat von den Bürgern wenig Geld erhielt. Mit einem Anteil von 19,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hat Griechenland eine der niedrigsten Steuerquoten in der EU. Zwar liegt Deutschland mit 22,6 Prozent auch nicht viel höher, allerdings entgehen dem Staat hier vermutlich weniger Einnahmen als in Griechenland, wo Steuerhinterziehung als besonders verbreitet gilt.
Rentenreform trotz heftigen Widerstands
Doch trotz unbestrittener Schwächen der Südeuropäer: Entgegen dem von Merkel erweckten Eindruck hat der Kampf gegen den Schlendrian längst begonnen - auch beim von der Kanzlerin kritisierten Rentenalter. Allerdings sind die Erfolge hier schwer zu vergleichen, weil die Rentensysteme sehr unterschiedlich sind.
So gab es in Griechenland bislang überhaupt kein allgemeingültiges Rentenalter. Im Durchschnitt setzten sich die Arbeitnehmer dort laut OECD jedoch mit 61,9 Jahren zur Ruhe, Deutsche und Spanier sind mit jeweils 61,8 Jahren fast genauso alt (siehe Fotostrecke). Nun soll das griechische Rentenalter auf 65 festgesetzt werden, zudem müssen Griechen künftig mindestens 40 statt bislang 35 Jahre in die Rentenkasse einzahlen. Die Reform wurde schon im vergangenen Jahr vom Parlament beschlossen, sie soll bis 2013 umgesetzt sein.
Spanien lässt sich mit der Umstellung mehr Zeit, will dafür aber auch weiter gehen. Trotz erbitterten Widerstandes einigte sich der sozialistische Premier José Luis Rodríguez Zapatero Ende Januar mit den Gewerkschaften auf eine stufenweise Anhebung von 65 auf 67 Jahre. Zudem müssen Arbeitnehmer künftig 37 statt 35 Jahre arbeiten, um Anspruch auf ihre volle Rente zu haben. Vollständig gültig soll die Reform erst 2027 sein, vom Parlament verabschiedet ist sie noch nicht.
Portugal plant derzeit zwar nicht, das Rentenalter von 65 Jahren anzuheben. Als Teil des Hilfspakets von EU und IWF musste die Regierung jedoch zusagen, die Renten auf mittlerer Höhe einzufrieren und Altersbezüge über 1500 Euro zu kürzen. Schon heute liegt zudem das tatsächliche Renteneintrittsalter männlicher Portugiesen mit 67 weit über dem europäischen Schnitt (siehe Fotostrecke). So gibt Portugal denn auch viel weniger für die Altersversorgung aus als andere EU-Staaten: Über ihre gesamte Lebenszeit beziehen männliche Rentner in Portugal laut OECD durchschnittlich Zahlungen von rund 140.000 Euro. In Griechenland, Spanien und auch Deutschland liegt die Summe mehr als doppelt so hoch.
Bittere Einschnitte für Beamte
Zum Teil deutliche Einschnitte wagten die Südeuropäer auch im öffentlichen Dienst. Griechenland, das bis vor kurzem nicht einmal einen Überblick über die genaue Zahl seiner Beamten hatte, verhängte einen unbefristeten Einstellungsstopp. Zudem kürzte die Regierung Gehaltszuschüsse und strich bei einem großen Teil der Beamten das 13. und 14. Monatsgehalt.
Auch Spanien und Portugal kürzen bei den Staatsbediensteten: Die Einkommen spanischer Beamter wurden bereits 2010 um fünf Prozent gekürzt, in diesem Jahr steht für sie eine Nullrunde an. Außerdem sollen insgesamt 13.000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut werden.
Portugal musste sich als Gegenleistung für das Rettungsprogramm von EU und IWF unter anderem darauf verpflichten, die Löhne im öffentlichen Dienst bis 2013 einzufrieren. Zudem sollen bei nationalen Behörden jährlich ein Prozent der Beschäftigten entlassen werden, bei regionalen Behörden zwei und in der Führungsebene sogar 15 Prozent. Insgesamt fallen auf diesem Weg jährlich voraussichtlich 8000 Stellen weg.
Und auch bei den Steuern waren die Krisenländer nicht faul. In Portugal stieg die Mehrwertsteuer von 20 erst auf 21 und dann auf 23 Prozent, die Einkommenssteuer wurde um 1,5 Prozentpunkte erhöht und auf Unternehmensgewinne gibt es nun eine "Krisensteuer" von 2,5 Prozent. Spanien hat die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent erhöht, Premier Zapatero kündigte außerdem eine "Reichensteuer" an. So soll unter anderem der Spitzensteuersatz für Jahreseinkommen über 175.000 Euro um zwei Prozentpunkte auf 45 Prozent steigen.
Griechenland schließlich hat verschiedene Steuern seit Ausbruch der Wirtschaftskrise gleich mehrfach erhöht. Die Mehrwertsteuer stieg von 19 zunächst auf 21 und dann auf 23 Prozent. Auch Mineralöl- und Tabaksteuer wurden wiederholt deutlich angehoben. Außerdem wurde eine zehnprozentige "Luxussteuer" eingeführt, die unter anderem auf teure Autos oder Yachten erhoben wird. Nach solchen Prestigeobjekten halten auch Griechenlands Steuerfahnder neuerdings verstärkt Ausschau - im Kampf gegen die im Land wuchernde Schattenwirtschaft wurden ihre Überprüfungen deutlich verstärkt.
Griechenland, Portugal oder Spanien haben also noch viel Arbeit vor sich. Doch Angela Merkels Aufforderung, sich "ein wenig" anzustrengen, führt in die Irre. Der Kraftakt hat längst begonnen.
Die von Merkel kritisierte Urlaubsfreude der Südeuropäer ist laut Zahlen der EU-Agentur Eurofound ohnehin ein Mythos. Demnach haben Spanier und Portugiesen im Durchschnitt jährlich Anspruch auf 22 Urlaubstage, die Griechen auf einen Tag mehr. Deutsche dagegen stehen mit durchschnittlich 30 Urlaubstagen europaweit an der Spitze - und führen selbst dann noch deutlich, wenn Feiertage hinzugezählt werden.