Euro-Untergangsszenarien Der Preis des Ausstiegs

Immer häufiger wird über ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone spekuliert - oder sogar über ein komplettes Aus der Gemeinschaftswährung. Das klingt oft so, als sei es nicht allzu schlimm für Deutschland. Dabei wären die Folgen katastrophal.
Euro-Münze: Austritt nicht vorgesehen

Euro-Münze: Austritt nicht vorgesehen

Foto: Karl-Josef Hildenbrand/ dpa

Hamburg - Die Warnzeichen mehren sich, die Unruhe wächst: Jeden Tag überschlagen sich die Meldungen zur Schuldenkrise in Europa. Die britische Finanzaufsicht weist Banken bereits an, sich auf ein mögliches Ende der Euro-Zone einzustellen. Der britische Devisenhändler CLS Bank International bereitet sich angeblich sogar schon mit einem Stresstest auf den Ernstfall vor. Der polnische Außenminister fordert Deutschland in einem dramatischen Appell auf, einen Kollaps der Währungsunion zu verhindern. Deutsche Anleger stoßen massenhaft Derivate ab, weil sie das Vertrauen in die Papiere verloren haben. Erstmals, so scheint es, wird quer durch Europa ernsthaft ein Untergang des Euro, wie wir ihn jetzt kennen, für möglich gehalten (die Ereignisse des Tages im Minutenprotokoll hier).

Wirklich erstmals? Tatsächlich sind Untergangsszenarien sogar älter als der Euro selbst: Schon Ende 1998 veröffentlichte der Harvard-Jurist Hal Scott einen Aufsatz mit dem Titel "Wenn der Euro zerbricht". Er bezifferte die Chance eines Euro-Aus mit etwa zehn Prozent. Da sollte es bis zur Einführung der Gemeinschaftswährung noch drei Jahre dauern.

Doch jetzt ist der drohende Kollaps real. Heute müsse "selbst der brennendste Euro-Liebhaber einräumen, dass die Wahrscheinlichkeit von Austritten oder einem Zusammenbruch der Währungsunion nicht länger gleich null ist", schreibt Mark Cliffe, Chefökonom der ING Bank. Der Ökonom Nouriel Roubini - wegen seiner Vorhersage der Finanzkrise bekannt als "Dr. Doom" - bezifferte die Wahrscheinlichkeit des Euro-Aus kürzlich auf 45 Prozent. Doch solche Expertenprognosen klingen in den Ohren der meisten Bürger abstrakt.

Was wären die konkreten Folgen und die Kosten einer Euro-Apokalypse - für Europa und vor allem für Deutschland? Ein Überblick:

Ist ein Ausstieg überhaupt möglich? Und ein Alptraumszenario?

Grundsätzlich ist ein Zerfall des Euro-Raums möglich. Harvard-Jurist Scott benannte schon im Jahr 1998 mehrere Tatsachen, die eine Rückkehr der Euro-Länder zu ihren nationalen Währungen theoretisch ermöglichen. So hat die Währungsunion

  • Euro-Münzen mit nationaler Prägung ausgegeben,
  • nationale Zahlungssysteme sowie Zentralbanken und nationale Schuldenaufnahme beibehalten,
  • die Devisen-Reserven der Mitgliedsländer nur begrenzt zusammenlegen lassen.

Könnte Deutschland also einfach zurück zur D-Mark? Könnte Griechenland einfach die Drachme wiedereinführen?

Das wäre keinesfalls so leicht, wie es Euro-Gegner darstellen. Ein Austritt aus der Währungsunion ist in den Verträgen rechtlich gar nicht vorgesehen - möglich ist nur der Austritt eines Landes aus der gesamten EU. So ein Austritt würde aber viel Zeit kosten - und die könnten Investoren für Spekulationen oder den Abzug ihres Kapitals nutzen, warnt der Ökonom Karsten Junius in einer Analyse für die DekaBank. Das betreffende Land würde also angeschlagen in seine neue Unabhängigkeit starten.

Offen wäre auch, was mit den Schulden eines Landes geschieht, wenn es die Euro-Zone verlässt. Bei Gründung der Währungsunion wurden solche Schulden in Euro umgewandelt. Bei vielen der Verträge handelt es sich laut Scott aber um "Einbahnstraßen", die eine Rückkehr zu nationalen Währungen gar nicht vorsehen.

Alptraumszenario: Gewalttätige Proteste

Entscheidend wäre, ob sich das betreffende Land Geld nach nationalem oder internationalem Recht geliehen hat - und das ist je nach Euro-Land höchst unterschiedlich: Während Deutschland laut DekaBank nur 0,2 Prozent seiner Schulden nach ausländischem Recht emittiert hat, sind es in den Niederlanden knapp 40, in Portugal sogar 60 Prozent.

Um diese Schulden, die auch bei deutschen Banken liegen, dürfte dann ein langwieriger Streit ausbrechen, der das Vertrauen in die Schuldner-Länder dauerhaft beschädigen würde. Schon jetzt treiben Investoren solche Sorgen um: Die japanische Bank Nomura soll ihren Kunden geraten haben, ihre Staatsanleihen darauf hin zu prüfen, ob sie in eine Landeswährung transferiert werden können.

Apropos Streit: Wird eine Währung abgeschafft, gibt es immer Opfer - auch viele Bürger, deren Erspartes plötzlich weniger oder gar nichts mehr wert ist. Deshalb ging das Ende von Währungsunionen in der Geschichte meist mit Unruhen oder sogar Bürgerkrieg einher. UBS-Chefökonom Stephane Deo glaubt, dass dies im Fall der Euro-Zone ähnlich wäre. Es sei "praktisch unmöglich, sich ein Auseinanderbrechen ohne schwere soziale Konsequenzen vorzustellen". Gewalttätige Massenproteste in Europa? Ein Alptraumszenario.

Zugleich würde die EU ohne den Euro in der Welt schlagartig an Einfluss verlieren. Nicht nur das Bemühen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wäre also sinnlos - selbst bevölkerungsreiche Staaten wie Deutschland würden ohne den Euro "kaum mehr als ein Flüstern auf der Weltbühne" zustande bringen, schreibt Experte Deo. Der US-Ökonom Barry Eichengreen glaubt, dass gerade die verheerenden politischen Folgen eines Austritts aus der Euro-Zone abschreckend für die Staaten wirken. Der "hohe Wert, den Mitgliedsländer dem europäischen Projekt insgesamt zumessen, wird sie von einem Austritt aus der Währungsunion abhalten", schreibt er - fügt dann aber einschränkend hinzu: "von extremsten Umständen abgesehen".

Sind diese extremen Umstände jetzt erreicht? Sind die Kosten für die Erhaltung des Euro - immer neue Schulden und Zinsen für diese Schulden - inzwischen so hoch, dass sie seinen Nutzen längst übertreffen?

Tausende Euro Belastung für jeden Deutschen - die Kosten des Ausstiegs

Nirgendwo ist die Euro-Skepsis so groß wie in Deutschland. Das ist einerseits verständlich, da die Bundesrepublik den größten Anteil an den Hilfspaketen für Krisenländer trägt. Andererseits ist es absurd, weil Deutschland in den vergangenen Jahren besonders stark von der Euro-Einführung profitiert hat.

Deutschland ist stolze Exportnation, rund 40 Prozent der Ausfuhren gehen in die Euro-Zone. An diesem Dienstag sorgte die Meldung für Aufsehen, dass die deutschen Exporte erstmals die Marke von einer Billion Euro knacken. Die Unternehmen sind allerdings darauf angewiesen, dass sie ihre Waren zu einem möglichst niedrigen und stabilen Preis ausführen können. Beides hat der Euro geschafft: Durch die Gemeinschaftswährung verschwanden Wechselkursschwankungen, und der Euro "wertet" weniger stark auf als die D-Mark - er hält also die Preise konkurrenzfähig.

Die Folge war ein Exportboom. Stiegen die deutschen Exporte zwischen 1990 und 1998 noch um gut drei Prozent, waren es zwischen 1999 und 2003 schon 6,5 Prozent und zwischen 2003 und 2007 sogar mehr als neun Prozent. Die staatliche KfW-Bank hat den Nutzen dieses Booms untersucht. Demnach hat die Mitgliedschaft in der Währungsunion Deutschland allein in den vergangenen zwei Jahren einen Gewinn von 50 bis 60 Milliarden Euro gebracht.

Würde Deutschland die Euro-Zone verlassen, wäre dieser Vorteil schlagartig verschwunden. Die wieder eingeführte D-Mark dürfte gegenüber dem Euro deutlich aufwerten, UBS-Chefökonom Deo hält einen Anstieg von 40 Prozent für realistisch. Die Folge: Exporte würden dauerhaft teurer. Falls ein starkes Land die Euro-Zone verlasse, schreibt Deo, "würde es letztlich seine Exportindustrie abschreiben". Für Deutschlands Wirtschaft wäre das ein desaströses Szenario.

Was passiert, wenn Athen aus der Euro-Zone austritt?

Und wie steht es um Krisenstaaten wie Griechenland und Portugal? Laut Ökonomen wie Ifo-Chef Hans-Werner Sinn könnte Griechenland durch einen Austritt aus der Euro-Zone seine Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen, indem es die Drachme abwertet. Das klingt erst einmal gut - doch es gibt einen Haken: Athen müsste wohl einen großen Teil seiner Schulden auch nach einem Austritt weiter in Euro abbezahlen. Durch die abgewertete Landeswährung Drachme würde das aber viel schwerer. Das wiederum würde Länder wie Deutschland und Frankreich treffen, bei deren Banken Griechenland hohe Schulden hat.

Eine entscheidende Frage lautet: Mit welchen Gesamtbelastungen müsste Deutschland bei einem Austritt aus der Euro-Zone rechnen? Der Ökonom Dirk Meyer hat ein Szenario entworfen, bei dem insgesamt Kosten von 250 bis 340 Milliarden Euro entstehen würden. Das wären stolze 10 bis 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

UBS-Chefökonom Deo hält dagegen sogar 20 bis 25 Prozent des BIP für realistisch - allein im ersten Jahr. Pro deutschem Staatsbürger wären das zwischen 6000 und 8000 Euro, in den folgenden Jahren zwischen 3500 und 4500 Euro. Zum Vergleich: Müssten nach Griechenland auch noch Portugal und Irland mit einem 50-prozentigen Schuldenschnitt gerettet werden, würde das laut Deo nur rund tausend Euro pro Bundesbürger kosten - und zwar einmalig.

Ähnlich pessimistische Berechnungen hat ING-Chefökonom Cliffe vorgenommen. Er geht in seinem Szenario davon aus, dass es nach einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone zu vielen weiteren Problemen käme: fallenden Aktienkursen, weiteren Banken, die mit Milliardenspritzen gerettet werden müssten, und ein deutlicher Verfall des Euro-Kurses. Sein Fazit: Der "Umfang des ökonomischen Schadens in den ersten zwei Jahren würde im Vergleich zu allen mutmaßlichen Langzeit-Vorteilen schwer wiegen". Darüber sollten "Entscheidungsträger vielleicht nachdenken, bevor sie den Austritt aus der Währungsunion fröhlich als eine Option bezeichnen".

Das klingt wie ein klares Signal an Europas Politiker. Aber nicht nur die Realwirtschaft würde von einem Ende der Euro-Zone massiv getroffen - auch dem Finanzsektor würden neue Gefahren drohen:

Rückkehr alter Grenzen - die Probleme für das Finanzsystem

Der Eindruck der letzten Finanzkrise 2008/2009 ist noch frisch, die Sorgen vor neuen Problemen für die Banken sind beträchtlich. In dieser Lage könnte schon der Austritt eines einzelnen Landes aus der Euro-Zone fatal sein.

Würde ein schwaches Land wie Griechenland austreten, müsste es mit panikartigen Reaktionen seiner Bürger rechnen. In Erwartung einer Abwertung würden wohl Hunderttausende Menschen ihre Konten räumen, es käme zu einem bank run, einem Ansturm auf die Banken. Anschließend würden viele Leute versuchen, das Geld ins Ausland zu schaffen. Eine solche Kapitalflucht könnte Banken, die ohnehin schon angeschlagen sind, endgültig den Rest geben.

Würde sich die gesamte Euro-Zone auflösen, würde auch ein starkes Land wie Deutschland leiden. In diesem Fall müsste jeder Euro-Staat Wechselkurse für die neue Währung festlegen. Alle Europäer hätten dann plötzlich einen Anreiz, ihre verbleibenden Euro gegen eine starke Landeswährung einzutauschen - so stark wie die D-Mark. Deutschland würde also große Mengen an Kapital anziehen - was wiederum den Inflationsdruck erhöht.

Laut Ökonom Junius haben Länder prinzipiell zwei Möglichkeiten, um diese Probleme zu vermeiden:

  • Sie könnten zum einen so schnell handeln, dass die Finanzmärkte vom Austritt aus der Euro-Zone überrascht werden. In diesem Fall könnte der Austritt zuvor aber nicht politisch kommuniziert und legitimiert werden - das ist praktisch undenkbar.
  • Austrittswillige Länder könnten zum anderen vorsorgen, indem sie Kapitalverkehrskontrollen einführen - also überprüfen lassen, wie viel Geld in ihr Land ein- und ausgeführt wird. Schon Harvard-Ökonom Scott machte sich detaillierte Gedanken darüber, wie Italien mit vorübergehenden Grenzschließungen und Stempeln eine neue Lire einführen könnte.

    Im Europa von heute hält Junius einen solchen Schritt aber für unrealistisch. "Angesichts der geografischen Nähe und der intensiven Handelsbeziehungen wäre es eine sehr unpraktische Lösung, die allenfalls für ein paar Tage Erleichterung böte." Außerdem würden Kapitalverkehrskontrollen auch dem Prinzip des gemeinsamen Marktes widersprechen - und damit die EU als Ganzes endgültig in Frage stellen.

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