
Vor der EZB-Entscheidung Was macht eigentlich eine Notenbank im Krieg?


EZB-Chefin Lagarde
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Was wir im Moment erleben, macht sehr deutlich, dass es weitaus wichtigere Dinge gibt als Geld: Menschleben, Gesundheit, Freiheit, Frieden und noch einiges mehr. Dennoch müssen wir an dieser Stelle mal wieder über Geld reden, denn ohne funktionierendes Geld sind auch viele höhere Ziele nicht erreichbar.
Funktionierendes Geld heißt: niedrige Inflation, stabile Finanzmärkte. Die allgemeine Preissteigerung sollte die Einkommen der Bürger nicht auffressen; Banken sollten nicht Pleite gehen, Staaten sollten sich finanzieren können. Wenn das gewährleistet ist, sollte sich die reale Wirtschaft ungestört durch monetäre Störungen entwickeln können.
Das mag banal klingen, aber in der derzeitigen Situation ist es das keineswegs. Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) um Präsidentin Christine Lagarde, der sich Donnerstag trifft, um den weiteren geldpolitischen Kurs abzustecken, steht vor einer höchst komplexen Problemlage. Selten war die Unsicherheit über die weitere Entwicklung so groß wie heute. Noch nie seit Bestehen der Währungsunion war die Inflation in der Eurozone so hoch. Was sollten Lagarde & Co. jetzt tun? Was kann man von ihnen erwarten?
Der größte »Angebotsschock« seit dem Zweiten Weltkrieg
So ist die Lage: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die daraufhin verhängten Sanktionen sind ein massiver Stresstest für die Weltwirtschaft, der sich unmittelbar in drastischen Preissteigerungen niederschlägt. Gas, Öl, Weizen, Industriemetalle und viele andere Rohstoffe werden knapp und teuer, weil Russland und die Ukraine als bedeutende Exporteure weitgehend ausfallen. Wie genau sich dies in internationalen Wertschöpfungsketten auswirken wird, ist bislang kaum vorherzusagen. Klar ist nur so viel: Lieferengpässe, die schon im Zuge der Pandemie im vorigen Jahr für allerlei Verspannungen gesorgt haben, werden gravierende Ausmaße annehmen.
Es sieht so aus, als ob die Wirtschaft vor dem größten »Angebotsschock« (Ökonomen-Jargon) seit dem Zweiten Weltkrieg steht. Die Ölkrisen der 1970er-Jahre nehmen sich dagegen wie Kleinigkeiten aus.
Allerdings gibt es einige entfernte Parallelen zu eben jenen: Auch damals gingen die Störungen von Verschiebungen im geopolitischen Umfeld aus. Die ölexportierenden Länder setzten sich vom Westen ab, begannen eine eigene Agenda zu verfolgen und forderten damit die US-amerikanische Führungsrolle der Nachkriegsjahrzehnte heraus. Und: Die steigenden Energiepreise stießen auf Volkswirtschaften, die bereits unter erhöhten Inflationsraten litten.

Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main
Foto: Frank Rumpenhorst / dpaDie Folge damals war ein kräftiger, anhaltender Inflationsschub, der in vielen westlichen Ländern für zweistellige Preissteigerungsraten sorgte. In der Bundesrepublik fiel der Anstieg schwächer aus, weil die Bundesbank entschlossen dagegenhielt, doch auch hierzulande war der Preisauftrieb spürbar.
Lieferengpässe treiben weiterhin die Preise
Auch heute trifft der Russland-Schock auf deutlich erhöhte Inflationsraten. Im Februar stiegen die Verbraucherpreise in der Eurozone um 5,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat; in den USA dürfte der Vergleichswert auf annähernd acht Prozent geklettert sein (achten Sie Donnerstag auf neue Veröffentlichungen aus Washington). Die Zahlen stammen noch aus der Zeit vor der russischen Invasion, als die Energiepreise aber wegen der zunehmenden Spannungen schon angezogen hatten.
Unter friedlichen Umständen wäre es für die EZB nun längst an der Zeit, die Geldpolitik zu normalisieren: aus den Anleihekäufen auszusteigen und allmählich die Zinsen anzuheben. Eine Lehre der 70er-Jahre wäre, nicht panisch auf die steigenden Energiekosten zu reagieren, sondern angemessen gegenzusteuern. Dabei sollten sich die Notenbanken von der »Kerninflation« leiten lassen, eine Größe, bei der die ständig schwankenden Preise für Energie und Nahrungsmittel herausgerechnet werden, weil eine Notenbank daran ohnehin wenig ändern kann.
Diese Kerninflationsrate ist im Euroraum zuletzt auf 2,7 Prozent gestiegen. Das ist nicht dramatisch, zeigt aber, dass sich die Lieferengpässe der Vergangenheit inzwischen in der Breite der Verbraucherpreise niederschlagen. Diese Effekte einzudämmen und zurückzudrängen ist der Job einer Notenbank. Indem sie die Kreditbedingungen verteuert und die Zinsen nach oben schleust, dämpft sie die Nachfrage und damit die Preisdynamik.
Eine solche Straffung nach Lehrbuch fiel der EZB schon vor der Zuspitzung in der Ukraine nicht leicht – wegen der hohen Verschuldung einiger Eurostaaten, die rapide steigende Zinsen empfindlich treffen würden. Seit dem 24. Februar, dem Beginn der russischen Invasion, hat jedoch eine neue Zeitrechnung begonnen.
Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Schuldenkrise
Die geopolitischen Verschiebungen, die den Kontext der derzeitigen Krise darstellen, sind weitaus gewaltiger als zu Zeiten der Ölschocks der 70er-Jahre (wir haben kürzlich an dieser Stelle darüber diskutiert). Die internationalen Verflechtungen der Finanz- und Gütermärkte sind unvergleichlich dichter und komplexer, weshalb sich die konkreten Auswirkungen von Sanktionen und Gegensanktionen kaum vorhersagen lassen. Dazu kommt die völlige Unsicherheit über den weiteren Kriegsverlauf.
In einer Zeit, in der es um die Selbstbehauptung Europas geht, wird realistischerweise nicht mehr der Zwei-Prozent-Zielwert der EZB für die Inflationsrate im Mittelpunkt stehen. Das zeigen Erfahrungen aus vier Jahrhunderten Inflation (siehe auch meine Kolumne im manager magazin ). Vielmehr rücken existenzielle Fragen in den Fokus. Es geht darum, Millionen Flüchtlinge zu unterstützen; die militärischen Kapazitäten der europäischen Staaten zu stärken, insbesondere an der Nato-Ostgrenze; die Energieversorgung für die gesamte EU aus außerrussischen Quellen sicherzustellen; die verhängten Sanktionen durchzusetzen und Gegensanktionen abzufedern, auch in anderen EU-Staaten, die besonders stark davon betroffen sein werden – und vieles mehr, was wir derzeit noch gar nicht überblicken.
Das wird teuer. Für einige Eurostaaten – Italien etwa, das stark von russischem Gas abhängig ist und zugleich hoch verschuldet – könnte es finanziell eng werden. Es ist denkbar, dass wir in den kommenden Wochen und Monaten erneut in Situationen kommen wie in den Jahren 2010 bis ’12, als einige Euromitglieder immer wieder mit rasch steigenden Zinsen zu kämpfen hatten. Beendet wurde diese prekäre Spekulation erst, als die EZB ankündigte, im Zweifelsfall Ländern mit Zahlungsproblemen beizuspringen – »whatever it takes«, wie der damalige EZB-Chef Mario Draghi sagte.
Die Ankündigung war so wirkmächtig, dass die Notenbank bislang keinen Euro dafür aufwenden musste. Für den Fall der Fälle steht Draghis OMT-Programm (»Outright Monetary Transactions«) nach wie vor bereit.
Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist eine Schuldenkrise. Die EU sollte maximale finanzielle Solidarität üben, falls nötig auch durch die Aufnahme weiterer gemeinsamer Schulden. Für Mitgliedstaaten der Währungsunion steht der Eurokrisenfonds ESM bereit und wenn nötig auch die Europäischen Zentralbank. Natürlich, die EZB muss die »Kerninflation« im Blick behalten und gegensteuern, soweit sie kann, aber zugleich klarmachen, dass sie unbedingt die Zahlungsfähigkeit gewährleisten wird. Das ist jetzt Teil der Abschreckungsstrategie der Nato.
Angesichts der enormen Unsicherheit braucht sie dazu maximale Flexibilität. EZB-Chefin Lagarde wird am Donnerstag beiden Zielen – Geldwert- und Finanzstabilität – glaubwürdig Rechnung tragen müssen. Das ist nicht zuletzt eine Aufgabe der Kommunikation. Umso wichtiger wird die Pressekonferenz nach der Ratssitzung.
Europas Widerstand gegen einen autoritären Aggressor darf nicht am Geld scheitern. Denn, wie zuvor erwähnt, es gibt ein paar Dinge, die sind noch wichtiger als Geld.
Die wichtigsten Termine der bevorstehenden Woche
Peking – Schrumpfende Welt – Der Krieg beeinträchtigt die internationale Arbeitsteilung. Nun legt Chinas Zoll Zahlen für den Außenhandel im Januar und Februar vor.
Paris – Schicksalswahl – Offizielle Verkündung der Kandidaten für die französische Präsidentschaftswahl. Zwei Kandidaten von der extremen Rechten sind dabei, darunter Putin-Freundin Le Pen. Immerhin: Derzeit führt Präsident Macron in den Umfragen.