
EZB und Teuerung Vorsicht, Inflation der Rechthaber!


Lebensmitteleinkauf: Diese Inflation hat kaum jemand so vorhergesehen
Foto: Sven Simon / IMAGOGehirnforscher sagen, dass der Mensch zu glauben neigt, Unvorhergesehenes geahnt zu haben – selbst wenn das nachweislich nicht so war. Das liegt offenbar daran, dass unser Gehirn sich an neue Lagen schnell anpasst. Und dann denkt, dass es nie anders war.
Das Phänomen könnte erklären, warum es sich auch bei plötzlichen Wirtschaftskrisen oft so verhält. So wie in diesen Wochen mit recht hartnäckig wirkender Inflation. Dass es so gekommen ist wie 2021, hat in dieser Form in Wirklichkeit keiner vorhergesagt.
Dass das so mancher gerade fälschlich behauptet, dürfte im vorliegenden Fall nicht nur mit dem Hang unseres Gehirns zur Selbstüberschätzung zu tun haben – sondern in Deutschland auch damit, dass es halt doch eine Menge Stabilitätswächter und Bundesbank-Nostalgiker gibt, die über Jahre prophezeiten, die laxe Politik und Geldflut der Europäischen Zentralbank (EZB) werde in die Inflation führen. Was dann Jahr für Jahr ausblieb. Bis jetzt, wo das allerdings bei näherem Hinsehen gar nicht an der EZB und ihrer Politik liegt.
Das ist ein zentraler Unterschied: Denn bei einer Fehldiagnose der aktuellen Inflationsraten drohen auch falsche Schlüsse abgeleitet zu werden – und Maßnahmen, die die eigentlichen Ursachen nicht beheben, aber starke Kollateralschäden anzurichten drohen.

Jahrgang 1965, leitet seit 2007 das Internetportal WirtschaftsWunder. Von 2002 bis 2012 war er Chefökonom der »Financial Times Deutschland«. Er ist Mitgründer des Forum New Economy, in dem sich Experten zusammengeschlossen haben, um ein neues wirtschaftliches Leitmotiv zu entwerfen.
Wenn der neue Bundesbank-Chef zum Antritt orakelt, die Bundesbank habe ja immer vor den Nebenwirkungen der EZB-Krisenpolitik gewarnt, ist das schon ein sehr großzügiges Verständnis von Richtigliegen. Ende 2020 prognostizierte die deutsche Währungshüterbehörde amtlich nicht einmal zwei Prozent Inflation – und hat damit die Teuerung 2021 selbst völlig unterschätzt. Ähnliches gilt für den Sachverständigen Volker Wieland, der sich dieser Tage für seine Inflationsnase loben ließ: Der Mann orakelte zwar Anfang 2021 tatsächlich mal etwas von drei bis vier Prozent Inflation – allerdings sollten die erst in drei bis fünf Jahren kommen, und dann auch noch eher unwahrscheinlich. Für 2021 sagte der Sachverständigenrat, in dem Wieland für geldpolitische Fragen zuständig ist, selbst im März noch keine höhere Inflation voraus.
Irrtümlich nicht ganz so falsch wie die Vorhersagen anderer
Selbst die, die wie die Forscher vom Kieler Institut schon früh zumindest 2,5 Prozent prophezeiten, wirken bei näherem Hinsehen nicht wirklich prophetisch: In der betreffenden Prognose war weder von explodierenden Rohstoff-, Öl- und Gaspreisen die Rede, noch von drastisch steigenden Transportkosten wegen Corona. Die Prognose war sozusagen irrtümlich nicht ganz so falsch wie die anderer.
Dann hat man einfach auch nicht die richtige Diagnose gestellt – und die braucht man, um zu wissen, wie diese Inflation jetzt wieder zu stoppen ist.
Wer wissen will, wie die Inflation zu stoppen ist, sollte genauer hinsehen – und nicht schlicht nachplappern, wie sehr die Euro-Notenbank schon immer daneben lag.
Wenn sämtliche Prognostiker 2021 in Wahrheit daneben lagen, hat das vor allem damit zu tun, dass sich in dem Jahr ein überraschend toxischer Mix entwickelte. Dazu gehörten (angekündigte) Phänomene wie die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer und die Einführung der CO₂-Steuer. Die entscheidenden Überraschungseffekte kamen aber von woanders:
zum einen durch die Vielzahl der Lieferengpässe, die im Auf und Ab der Pandemie entstanden – weil zum einen Lockdowns die Produktion hemmten und zum anderen nach Öffnung viele Aufträge in kurzer Zeit weltweit nachgeholt wurden; das ließ allein die Transportkosten drastisch hochschnellen – und manche Firma nutzte die Gelegenheit der vorübergehenden Knappheiten, ihre Preise anzuheben, was wiederum auch zu den Rekordgewinnen zumindest bei den Dax-Konzernen beigetragen haben dürfte;
zum anderen durch eine regelrechte globale Explosion der Preise für fast alle Rohstoffe samt etlicher Lebensmittel – mit immer neuen spekulativen Schüben, wie zuletzt im Januar; allein ein Drittel der Jahresinflation 2021 kam in Deutschland durch den (globalen) Energiepreis-Höhenflug, schätzen die Ökonomen der Deutschen Bank.
All das gibt einen Eindruck, warum es jetzt nicht einfach ist, darauf zu reagieren – jedenfalls weniger einfach, als es die poltern, die wie, sagen wir, Friedrich Merz oder unser Finanzminister und sein neu-alt-liberaler Chefberater glauben (machen), dass es natürlich an der EZB und den niedrigen Zinsen gelegen hat.
Durchaus möglich ist, dass die Kritiker schon bald dadurch widerlegt werden, dass manche der wirklichen Ursachen sich bald umkehren.
Kurios, aber wahr. Immerhin mehren sich seit Wochen die Anzeichen dafür, dass im Welthandel die Engpässe nachlassen. Der Anteil der Container, die irgendwo feststecken, ist bereits spürbar gesunken. Der Index für die Preise im maritimen Handel stürzte zuletzt sogar regelrecht ab – und liegt mittlerweile niedriger als Mitte 2019. Die Inflation bei den neuralgischen Kursen für industrielle Metalle lasse deutlich nach, schreibt die Ökonomin Véronique Riches-Flores – und da die Metalle für viele Branchen am Anfang der Produktionskette stünden, könne das der Beginn einer deutlichen globalen Entspannung in Sachen Inflation sein.
In Deutschland meldete zuletzt nur noch ein Viertel der Firmen im Hochbau, dass sie durch fehlende Baustoffe beeinträchtigt sind – im Dezember war es noch jede Dritte, zu Hochzeiten der Coronakrise sogar die Hälfte. Auch der Mangel an Fachkräften lässt den Umfragen zufolge gerade nach.
Möglicherweise von der einen Richtung in die andere
Selbst bei den Rohstoffen könnte die Überraschung plötzlich aus dem Reich des Guten kommen. Wie die Kolumnistin der »Financial Times«, Gillian Tett, diese Woche schrieb , werden die Kurse für Öl, Gas und anderes mittlerweile in hohem Ausmaß durch Roboter getrieben, die den ohnehin gängigen Herdentrieb und die Spekulation verstärkten – was zugleich bedeutet, dass so ein Trend auch rasch kippen kann. So wie nach der Finanzkrise 2008, als dem – damals noch stärker menschlichen – Hochschnellen der Ölpreise kurz darauf ein atemberaubender Absturz folgte. Da war plötzlich die Inflation weg.
Das könnte so oder ähnlich kommen, wenn etwa die Ukrainekrise nicht eskaliert – und viele Nachwirkungen der Coronakrise auf Lieferketten und Aufträge nachlassen. Nach Rechnungen der DZ-Bank könnte der Ölpreis dann, statt auf deutlich über hundert US-Dollar je Fass (im Fall einer russischen Invasion) zu steigen, auf weniger als 68 Dollar fallen. Da wäre die Inflation weg – zumindest ein guter Teil davon, wenn das auch andere Rohstoffkurse mit sich zieht.
Schon in einem moderateren Szenario könnte die Inflation im Euroraum Anfang 2023 wieder unter zwei Prozent fallen, schreiben die Ökonomen der Berenberg Bank.
Gegen die schnelle Rückkehr zu moderaten Inflationsraten spricht zumindest derzeit noch, dass viele deutsche Firmen die gestiegenen Kosten der vergangenen Monate jetzt erst an die Kunden weiterzugeben versuchen werden. Und dass etwa die zeitweise dramatisch gestiegenen Gaspreise wegen des üblichen Abrechnungsmodus erst bei den anstehenden Jahresabrechnungen für das Gros der Verbraucher spürbar werden. Und damit auch in der gemessenen Inflationsrate, die dadurch erst einmal hoch bleiben wird.
Dazu kommt nach jüngster Diagnose der Euro-Zentralbanker, dass die Konjunktur dank glimpflicher Omikron-Welle schneller wieder anziehen könnte, wie EZB-Direktorin Isabel Schnabel diese Woche erklärte – ebenso wie die Nachfrage nach Arbeitskräften. Das wiederum könnte höhere Lohnzuwächse nach sich ziehen. Dann wird die Frage sein, ob das der Anfang einer sinnlosen Spirale aus höheren Preisen und höheren Löhnen ist – oder einfach das, was die Notenbanker mit ihren Interventionen und Niedrigzinsen seit Jahren zu erreichen versucht haben: dass einfach die Wirtschaft endlich wieder normal läuft – mit Einkommensgewinnen nicht nur für Aktionäre und Firmen; und mit entsprechend normaleren Inflationsraten eher mal etwas über als unter zwei Prozent. Kein Drama. Im Gegenteil.
Möglichst schnell Zinsen anzuheben, würde nach aller Erfahrung erst nach einer Zeit wirken
Wer behauptet, schon zu wissen, dass die schlimme Inflation für die absehbare Zukunft zurück ist, der betreibt ebenso Humbug wie die, die meinen, sie hätten den Inflationsschock 2021 aus einschlägigen Gründen kommen sehen. Vorsicht, Gaukler.
Möglichst schnell Zinsen anzuheben, würde nach aller Erfahrung erst nach einer Zeit wirken – und alle Kredite teurer machen, auch die, die Unternehmen für sinnvolle Dinge geplant hatten. Es würde auch dort die Wirtschaft bremsen, wo es gar keine Engpässe oder Coronafolgen gibt. Was umso fataler wäre, da seit Jahren viel zu wenig investiert wird. Und es würde auch wenig daran ändern, wenn Kurse auf den Weltmärkten doch wieder explodieren.
Da wirkt auch der schöne Gedanke aus gängigen Ökonomen-Modellen eher naiv, wonach die Notenbank durch so eine Zinsanhebung trotzdem wie von Zauberhand die Inflation stoppen könnte: weil schon durch die Ankündigung alle denken, dass die Inflation weggeht – und daraufhin keiner die Preise und eigenen Löhne mehr anzuheben braucht. Simsalabim. Wunderbar: Da macht die Notenbank also etwas, was gegen die eigentlichen Übel (Öl, Gas usw.) gar nicht wirkt, die Inflation aber deshalb stoppt, weil alle glauben, dass es doch wirkt. Das hat dann doch eine stark esoterische Note; selbst wenn stimmt, dass so ein Erwartungsmanagement auf den für derartige Esoterik empfänglichen Finanzmärkten Eindruck machen kann. Der Rest der realen Welt dürfte staunen.
Was, wenn die Welt-Rohstoffkurse dann trotzdem weiter hochgehen – obwohl die EZB ihre Zinsen angehoben hat? Nicht gut für die Glaubwürdigkeit.
Was 2022 am Ende in Sachen Inflation herauskommt, ist womöglich nicht sehr viel besser vorherzubestimmen als das, was 2021 passierte.
Die Lehre aus den toxischen Inflationsüberraschungen ist gerade nicht, dass es richtig ist, jetzt reflexartig von der EZB höhere Zinsen zu fordern. Sondern eher, genauer hinzusehen, welche der teils kaum vorhersehbaren Ursachen für den Schock dieses Jahr relevant bleiben – und welche nicht. Und ob sich Inflationserwartungen nun zu verselbstständigen drohen.
Das spricht für gute Diplomatie – weil Öl- und Gaspreise je nach Krieg oder Frieden um die Ukraine weiter hochschnellen oder (doppelt gut) abstürzen könnten. Ebenso wie für alle Akutmaßnahmen, die jene Preisschübe für die Menschen im Land noch aufzufangen versuchen, die bereits absehbar sind, wie die Weitergabe des Gaspreisschocks. Da könnte helfen, die EEG-Umlage schon im Sommer abzuschaffen; oder Obergrenzen für Gaspreise einzuführen, wie es Sebastian Dullien und Isabella Weber gerade empfohlen haben. Da geht noch mehr. Es geht um viel.
Ob die EZB ihre Zinsen nach all den Jahren jetzt dauerhaft wieder anheben muss (und kann), wird sich danach erst wirklich zeigen. Und es wird davon abhängen, wie gut die Wirtschaft in ganz Europa aus der Pandemie kommt – und wie erfolgreich sich weitere Preisschocks dieses Jahr noch verhindern lassen. Je nach Ausgang sind höhere Zinsen dann entweder verkehrt – oder genau richtig. Der Rest ist Voodoo.