Christian Böllhoff

Arbeitskräftemangel Wie Omikron für immer

Christian Böllhoff
Ein Gastbeitrag von Christian Böllhoff
Die drohende Corona-Krankmeldewelle könnte bloß ein Vorgeschmack sein: Wenn die Babyboomer in Rente gehen, wird es dramatische Personalengpässe geben. Das Problem geht uns alle an.
Auszubildende am Schraubstock: Die Menschen, die das Land am Laufen halten, werden an allen Stellen knapp

Auszubildende am Schraubstock: Die Menschen, die das Land am Laufen halten, werden an allen Stellen knapp

Foto: Jens Kalaene / picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild

Es klemmt überall. Der Bus, der sonst alle 15 Minuten kam, fährt nun nur im Stundentakt. Die Bäckerei schließt plötzlich schon mittags. Wem die Haare über die Ohren wachsen, der telefoniert Salons auf freie Termine in den nächsten Wochen ab. Der Weg zum Bargeld ist bisweilen weit, denn wenn einzelne Geldautomaten nicht mehr ganz so häufig mit Scheinen befüllt werden, spucken sie irgendwann auch keine mehr aus. Erst Stunden nach der üblichen Uhrzeit schickt der Pflegedienst eine überarbeitete Vertretungskraft, die hilft, Oma zu waschen. Wer Geschen­ke oder Arbeitsmaterial online ordert, der kriegt mit der Bestellbestätigung den Hinweis, die Lieferung käme aufgrund von Personalengpässen erst später als sonst. Und was da so stinkt? Das ist der Müll, der nicht mehr zuverlässig abgeholt wird.

So könnte es bei uns aussehen, wenn Omikron halb Deutschland oder einzelne Regionen lahmlegt. Sobald die Zahl der Erkrankten immer neue Höchstwerte erreicht, sind Zigtausende zu Hause isoliert, als Kontaktperson in Quarantäne oder betreuen ihre Kinder daheim – und fehlen bei ihren Arbeitgebern. Die Menschen, die das Land am Laufen halten, werden an allen Stellen knapp.

Bis 2030 könnten bereits mehr als drei Millionen Fachkräfte fehlen

Das wäre keine Naturkatastrophe. Aber reibungslos liefe der Alltag keineswegs. Wenn die Welle rollt, sind viele, die arbeiten, hypernervös, weil im Job so viel zu tun ist und Kolleginnen und Kollegen fehlen. Während die Personalausfälle so im Kleinen als Verdichtung spürbar werden, zeigen sie sich im Großen paradoxerweise als Gegenteil: Durch die vielen Lücken gerät einiges ins Stocken. Es gibt massenhaft Probleme durch Materialengpässe, Rohstoffknappheit und Lieferverzögerungen. Würde Netflix diese deutsche Wirtschaft als Reality-Serie streamen, käme es uns vor, als sei die Wiedergabegeschwindigkeit halbiert.

Was wir durch eine solche Krankmeldewelle zu spüren bekommen, wäre ein bitterer Vorgeschmack auf die Zukunft: Der seit Jahren absehbare Arbeitskräftemangel wird ähnliche Effekte auslösen wie das Virus, nur diesmal dauerhaft.

Dieser Mangel wird zum Kernproblem der deutschen Wirtschaft.

So sehr wir die Pandemie nicht kommen sehen konnten, so bekannt ist das demografische Problem seit Jahrzehnten. Dazu muss man keine Wirtschaftsforschung betreiben. Wer den Sozialkundeunterricht besucht, weiß: Die sogenannten Babyboomer wechseln zwischen 2025 und 2035 in den Ruhestand. Es rücken zu wenig junge Menschen nach. Bis 2030 könnten bereits mehr als drei Millionen Fachkräfte fehlen.

Dieser Mangel wird zum Kernproblem der deutschen Wirtschaft. Er wird das künftige Wirtschaftswachstum erheblich bremsen. Wir müssen aufpassen, dass der postpandemische Optimismus nicht jäh beendet ist, bevor er überhaupt wirksam wird. Weil schon das nächste Problem zuschlägt – und zwar eines, das bleibt.

Bayern beispielsweise, das zeigen unsere aktuellen Szenariorechnungen, könnte bis 2035 in zwei Dritteln wesentlicher Berufshauptgruppen mit Engpässen zu kämpfen haben – insbesondere da, wo man eine klassische Berufsausbildung braucht: in der Maschinen- und Fahrzeugtechnik zum Beispiel, auf dem Bau oder für die Gesundheit. Im verbleibenden Drittel kann es dagegen ein Überangebot an Arbeitskräften geben. Was hier zuschlägt, ist das Mismatch-Problem: ein Missverhältnis, das etwa dann entsteht, wenn Menschen, die Arbeit suchen, nicht dort wohnen, wo es offene Stellen gibt, oder sie nicht die passenden Qualifikationen mitbringen. Zwischen Angebot und Nachfrage wird eine eklatante Lücke klaffen.

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Dass der drohende Mangel die Politik in besonderer Weise alarmiert, lässt sich nicht erkennen: Das Wort »Fachkräfte« kommt im Koalitionsvertrag eher am Rande vor. Die Ampel hat sich in ihr Papier zwar einige Ideen geschrieben, wie sie Teile des Problems lösen will: mehr berufstätige Frauen, mehr erwerbstätige Rentnerinnen und Rentner, mehr berufliche Aus-, Fort- und Weiterbildung, mehr gezielte Einwanderung. All das ist erst einmal anerkannt richtig. Aber dadurch allein ändert sich noch nichts. Zumal die Koalition – anders als bei anderen Vorhaben – recht unkonkret bleibt. Und bei manchen Vorschlägen ist ohnehin nicht mehr besonders viel zu holen: Die Frauenerwerbsquote etwa ist inzwischen fast so hoch wie die der Männer. Und im Vergleich zu früher arbeiten schon jetzt rentennahe Altersgruppen länger. Beide Hebel sind die richtigen, nur dürfen wir uns nicht vormachen, sie allein würden es richten.

Der Fachkräftemangel wird spürbare Auswirkungen haben: Staat und Unternehmen können sich nicht innovativ weiterentwickeln, Betreuungs- und Pflegekapazitäten fehlen, Verwaltung und Handwerk kommen nicht hinterher, um beispielsweise die Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Klimaschutz umzusetzen. Eines darf uns deshalb nicht passieren: dass wir das Problem für ein Problem allein der Arbeitgeber halten. Es ist unser aller Problem. Das einer pflegenden Angehörigen zum Beispiel. Das eines Vermieters, der sein Gebäude klimafit machen will. Das von scheinbar unattraktiven Regionen. Dass sie die Knappheit am härtesten treffen wird, spüren sie schon heute.

Eines darf uns nicht passieren: dass wir das Problem für ein Problem allein der Arbeitgeber halten. Es ist unser aller Problem.

Es ist deshalb höchste Zeit für mehr langfristige Personalstrategie auf nationaler Ebene – ein Instrument übrigens, das auch in vielen fortschrittlichen Unternehmen schon erfolgreich genutzt wird. Es braucht eine konzertierte Aktion, die in Politik, Verwaltung, Unternehmen und Bildungseinrichtungen wirkt und Bewusstsein bei allen Bürgerinnen und Bürgern schafft. Die Ampel muss hier die Richtung vorgeben und dringend Tempo machen. Dass der Staat als Arbeitgeber mit gutem Beispiel vorangehen sollte, versteht sich von selbst.

Denn nicht nur im digitalen Bürgeramt, im Krankenhaus oder im Genehmigungsverfahren für die neue Windkraftanlage zählt jede Fachkraft. Auch wer für die freie Wirtschaft Laster fährt, im Lager arbeitet, Essen ausgibt oder Automaten befüllt, wird weiterhin dringend gebraucht. Ungeachtet der Qualifikationsstufe verändern sich fast alle Arbeitsfelder. Neue Kompetenzen sind damit nicht nur beim Branchenwechsel nötig, sondern auch »on the job«. Unter Geringqualifizierten und in kleinen und mittleren Unternehmen sind die Weiterbildungsquoten unterdurchschnittlich. Hier muss der Staat noch stärker Bewusstsein schaffen, Know-how vermitteln und Angebote bereitstellen, die auch kleine Unternehmen mit sehr knapper Personaldecke unbürokratisch umsetzen können. Und die Menschen müssen die neuen Angebote dann auch annehmen. Als Weiterbildungsmentorinnen und -mentoren können sich Angestellte dabei auch gegenseitig unterstützen. Ein Ansatz, von dem vor allem diejenigen profitieren, die dem Lernen bisher wenig Positives abgewinnen können.

Eine Echtzeitsimulation zukünftiger Arbeitsmärkte

Darüber hinaus braucht der Arbeitsmarkt vor allem mehr Flexibilität und Durchlässigkeit. Quereinstiege sind zentral, wenn man das Mismatch-Problem vermeiden will. Mit Unterstützung der Stiftungen von VW, Lidl und Kaufland eröffnete kürzlich die IT-Schule 42. Erwachsene jeden Alters können sich dort bewerben, um Coden und mehr zu lernen – ganz ohne beglaubigtes Abiturzeugnis in zweifacher Kopie und ähnlichen Papierkram. Nicht selten werden die Lernenden bereits während der Ausbildung von fortschrittlichen Arbeitgebern abgeworben. Anderenorts jedoch sind zu viele noch immer fixiert auf Papier, Brief und Siegel. Ob jemand nachweislich exzellent schwimmen kann, scheint für viele Chefinnen und Chefs, Unternehmen und Ämter unerheblich zu sein, solange kein Seepferdchen als Nachweis vorliegt.

Neue Ideen, wie der Staat lebenslanges Lernen noch stärker fördern könnte, gibt es viele: Das Transformationskurzarbeitergeld zum Beispiel, das die Gewerkschaften für Branchen im Strukturwandel vorschlagen. Die in Österreich übliche Bildungsteilzeit, deren Einführung die Ampelkoalition sich vorgenommen hat. Oder das vom Zentrum Liberale Moderne vorgeschlagene Bildungsgrundeinkommen als finanzielle Absicherung eines Bürgerrechts auf Weiterbildung. Noch nie gehört? Kein Wunder – steht das wichtige Thema doch viel zu weit unten auf der Agenda der Öffentlichkeit.

Wenn wir diesen letzten Weckruf wieder überhören, ist der wirtschaftliche Aufschwung ernsthaft in Gefahr.

Nicht nur in der Bundespolitik, sondern auch an anderen Schaltstellen von Wirtschaft und Gesellschaft schieben zu viele Verantwortliche das Problem des Fachkräftemangels vor sich her. Vor allem jene Maßnahmen, die zwar langfristig wirksam sind, kurzfristig aber keine sichtbaren Erfolge zeigen. Womit auch klar ist, warum einerseits alle über den Fachkräftemangel klagen – und andererseits nicht alles dagegen getan wird. Forschende sprechen seit Jahren von einem »Talk-Action-Gap«. Theoretisch ist also alles klar.

Das Problem ist nur: Dem Fachkräftemangel ist das egal. Er kommt. Und ähnlich wie die Coronapandemie ist er doppelt problematisch. Denn er zwingt uns nicht nur die Frage auf, welche Auswirkungen er auf jede Einzelne und jeden Einzelnen hat, sondern wie er uns allen schadet. Der Fachkräftemangel ist nicht nur das lange Warten auf einen Friseurtermin. Er ist eine Wachstumsbremse und gefährdet auch massiv die Transformation hin zu einem klimaneutralen Deutschland.

Omikron wirkt wie eine Echtzeitsimulation zukünftiger Arbeitsmärkte. Wenn wir diesen letzten Weckruf wieder überhören, ist der wirtschaftliche Aufschwung ernsthaft in Gefahr.

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