Fake News am Arbeitsplatz Aufklärung in der Mittagspause

Demonstration gegen Corona-Schutzmaßnahmen (im August in Dortmund)
Foto: Anja Cord / Cord / IMAGODas Phänomen ist vielen Menschen von Familientreffen bekannt. Irgendwann nehmen der hysterische Onkel Heiner oder die besserwisserische Cousine Angelika die Festgesellschaft in Beschlag und belehren sie mit ihren Erkenntnissen: Dass Corona nur eine Grippe sei, demnächst massenhafte Zwangsimpfungen anstünden und die Medien von der Regierung gesteuert würden. Und überhaupt: Schuld an der Misere seien Kanzlerin Angela Merkel und ihre Flüchtlinge. So stehe es jedenfalls im Internet.
Die Reaktion der Familie auf solche Ausbrüche kennt mehrere Varianten: Die einen schweigen betreten, andere drehen die Augen gen Himmel, die Dritten wenden sich ab, manche lassen sich auf Diskussionen ein. So oder so, die Atmosphäre ist belastet.
Doch Populismus und Verschwörungstheorien können nicht nur im Familienkreis ein Problem sein, sie haben auch das Zeug dazu, den Betriebsfrieden zu gefährden. Denn häufig sind Onkel Heiner, Cousine Angelika und ihre Gesinnungsgenossen ganz gewöhnliche Arbeitnehmer, die ihren Missionsdrang gern auch am Arbeitsplatz ausleben, wo sie noch mehr Zeit verbringen als im Kreise der Verwandtschaft.
"Auch viele ältere Menschen sind anfällig"
Dieser Gefahr will sich die gemeinnützige Hertie-Stiftung entgegenstemmen, zusammen mit der Bosch-Stiftung und dem Institute of Strategic Dialogue (ISD), einem global agierenden Thinktank, der sich dem Kampf gegen den Extremismus jeglicher Couleur verschrieben hat. Das Bündnis mit dem programmatischen Titel "Business Council for Democracy" (BC4D) hat ein Defizit erkannt: Die meisten Initiativen gegen populistische Umtriebe im Internet wenden sich an Jugendliche. Mindestens ebenso lohnend aber sei es, Erwachsene für die Herausforderungen des Internets und der sozialen Medien zu schulen, finden die Initiatoren. "Studien belegen, dass auch viele ältere Menschen anfällig sind für Desinformationskampagnen im Netz", sagt Elisabeth Niejahr, Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung. "16-Jährige wissen unter Umständen eher, was eine Filterblase ist, als manche 56-Jährige." BC4D will dieser Gruppe Bildungsangebote am Arbeitsplatz anbieten.
"Um die Demokratie zu stärken, brauchen wir neue Allianzen", sagt Niejahr, die lange als Journalistin für SPIEGEL, "Zeit" und "Wirtschaftswoche" gearbeitet hat. Ansprechpartner sind vor allem Unternehmen, die ihre Belegschaften für die Gefahren im Netz sensibilisieren möchten. Einige Firmen hätten schon Interesse signalisiert, sagt Niejahr. Um deren Namen zu nennen, sei es aber noch zu früh.
Der Zeitplan ist ehrgeizig. Am Montag eröffnete das Bündnis eine Geschäftsstelle in Berlin. Bis Ende Januar nächsten Jahres sollen Experten in Abstimmung mit der Wirtschaft ein Curriculum für die Bildungsangebote ausarbeiten. Es folgt eine Pilotphase mit vorerst fünf Unternehmen und anschließender Auswertung. Fällt sie positiv aus, soll das Programm im Verlauf des nächsten Jahres im größeren Rahmen angeboten werden.
Das Curriculum wird im Wesentlichen aus drei Themenkomplexen bestehen. Die Module beschäftigen sich mit dem Phänomen der Hassrede im Netz, mit Verschwörungstheorien und mit Desinformationskampagnen. "Wir wollen die Teilnehmer nicht politisch beeinflussen", sagt Huberta von Voss-Wittig, die Repräsentantin von ISD Germany. "Sie sollen in die Lage versetzt werden, sich selbst ein Urteil zu bilden." Wie wichtig das sei, offenbare aktuell der amerikanische Wahlkampf, wo die Radikalisierung im Netz so weit gehe, bei unerwünschtem Wahlausgang zu Gewalt aufzurufen.
Die Politik ist überfordert
Die Politik ist nach Einschätzung von Voss-Wittig allein überfordert, der Entwicklung Einhalt zu gebieten. "Dafür brauchen wir mehr Akteure, innovative Angebote", sagt sie. "Nach dem Umweltschutz muss auch der Schutz der Demokratie Bestandteil nachhaltigen Wirtschaftens werden", fordert Voss-Wittig.
Die Veranstaltungen sollen für Arbeitnehmer kostenlos sein. Gern würden die Akteure ihre Abgesandten in die Unternehmen schicken, doch selbst für die Zeit nach Corona streben sie erst einmal ein Onlineangebot an. Der Zeitaufwand erscheint überschaubar. Die 45-minütigen Einheiten passen in eine Mittagspause.
Das Echo auf die Initiative ist vielversprechend. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) hat schon ihre Unterstützung zugesagt. Und auch der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Rainer Hofmann, zeigt sich dem Unterfangen gegenüber aufgeschlossen. Die Angst vor amerikanischen Verhältnissen, so scheint es, eint hierzulande Gegner.