
Drohende Kürzungen: Was sich die USA sparen könnten
Streit über Staatsfinanzen Den USA drohen griechische Verhältnisse
Hamburg - Die USA haben gewählt, die Zeit der Horrorfilme scheint vorbei zu sein. In Wahlwerbespots hatten Anhänger von Barack Obama und Mitt Romney düstere Visionen entworfen, falls der jeweilige Gegner siegen sollte: Unter Obama drohte demnach endgültig der Schwenk zum Sozialismus, unter Romney eiskalte Ausbeutung.
Nach der Wiederwahl von Obama erwartet die Amerikaner nun aber ein andere, deutlich realere Schreckensvision: Schon in wenigen Wochen könnten in den USA Tausenden von Kindern Impfungen oder ein Hortplatz verweigert werden. Viele Erwachsene müssten auf HIV-Tests verzichten, auf Bildungsstipendien oder Sozialwohnungen. Auch Fluglotsen, das FBI, Grenzbeamte und das Militär könnten ihrer Arbeit nicht mehr wie bisher nachkommen.
All dies und mehr droht nach Angaben des Weißen Hauses, sofern die USA nicht doch noch vor dem "fiscal cliff" zum Stehen kommen - der finanzpolitischen Klippe. Der von Zentralbankchef Ben Bernanke geprägte Begriff fasst verschiedene Kürzungen und Steuererhöhungen gigantischen Ausmaßes zusammen. Dabei geht es besonders um:
- Automatische Ausgabenkürzungen in Höhe von insgesamt 1,2 Billionen Dollar in den kommenden neun Jahren, die je zur Hälfte das Militär und die Zivilgesellschaft treffen würden. Vorgesehen sind die Einschnitte in einem Gesetz, mit dem 2011 die gesetzliche Schuldenobergrenze der USA angehoben wurde. Sie treten Anfang 2013 in Kraft, sofern sich Demokraten und Republikaner vorher nicht von allein auf Einsparungen einigen können. Allein im ersten Jahr würden die Kürzungen 65 Milliarden Dollar ausmachen.
- Das Auslaufen verschiedener Steuererleichterungen. Darunter sind Vergünstigungen für Besserverdienende, die noch von Ex-Präsident George W. Bush eingeführt und unter Obama verlängert wurden. Insgesamt erwartet das überparteiliche Congressional Budget Office (CBO) dadurch 2013 zusätzliche Einnahmen in Höhe von 221 Milliarden Dollar.
- Das Auslaufen einer zweiprozentigen Absenkung der Lohnsteuer, die seit Anfang 2011 galt. Umfang im ersten Jahr: 95 Milliarden Dollar.
Hinzu kommen weitere Steuern und Kürzungen. So werden durch Obamas Gesundheitsreform Steuern in Höhe von 18 Milliarden Dollar fällig, das Auslaufen bestimmter Arbeitslosenhilfen spart 26 Milliarden Dollar. Falls die Politik nicht noch eingreift, würde sich das Defizit der USA damit im kommenden Jahr um insgesamt 560 Milliarden Dollar und damit nahezu um die Hälfte reduzieren.
Das klingt zunächst einmal ziemlich gut. Schließlich sind auch die USA hoch verschuldet und könnten wie verschiedene Euro-Länder in eine Schuldenkrise schlittern. Das zeigte sich bereits vor gut einem Jahr, als die Rating-Agentur Standard & Poor's (S&P) dem Land die Bestnote entzog. Die Bonitätswächter begründeten ihren Schritt damals auch mit dem langwierigen Streit über die Schuldenobergrenze. Dabei hätten die Verantwortlichen ein unerwartetes "Ausmaß von Politik am Rande des Abgrunds" gezeigt, sagte ein S&P-Sprecher.
Die Landung wäre hart
Tatsächlich scheint der Dauerzwist von Republikanern und Demokraten angesichts der dramatischen Haushaltslage reichlich absurd. Während ihr Land auf den finanziellen Abgrund zusteuerte, diskutierten Kongressabgeordnete über die Frage, ob Pommes frites und Pizza nicht auch als Gemüse behandelt werden müssten .
Doch ein Teil der Streitigkeiten lässt sich mit einem Grundkonflikt erklären, der sich den Europäern derzeit genauso stellt: der Frage, wie viel Sparen zu viel ist.
Denn so gut ein halbiertes Defizit durch den Sprung von der finanziellen Klippe auch zunächst aussieht - die Landung wäre hart. Wenn gleichzeitig die Steuern steigen und staatliche Leistungen massiv gekürzt werden, hat das enorme Auswirkungen auf die Wirtschaft. Laut CBO-Berechnungen dürfte sich ihr Wachstum 2013 um vier Prozentpunkte reduzieren, ein Rückfall in die Rezession wäre damit wahrscheinlich. Die Zahl der Arbeitslosen würde um rund zwei Millionen höher liegen als ohne die Einschnitte.
Diese Aussicht ängstigt nicht nur Amerikaner. In seinem Jahresbericht zu den USA bezeichnete der Internationale Währungfonds (IWF) die Finanzklippe kürzlich als größtes innenpolitisches Risiko. Schon halten sich Investoren angeblich aus Sorge vor den drohenden Einschnitten zurück. Sollte sich die Politik auf keinen glaubwürdigen Plan zur Schuldenreduzierung einigen, so könne dies "zu einer schleichenden Erosion des US-Dollar als Reservewährung führen und die Zinskosten für Staatsanleihen in die Höhe treiben", so der IWF.
Auch in Deutschland wird die US-Haushaltspolitik in den kommenden Wochen besonders aufmerksam verfolgt werden. Sollte das US-Wachstum vom "fiscal cliff" gebremst werden, so könnte dies "in dem derzeit fragilen Umfeld zu einem globalen Unsicherheitsschock führen, der die Investitionstätigkeit weltweit einbrechen ließe", heißt es im am Mittwoch veröffentlichten Jahresgutachten der sogenannten Wirtschaftsweisen. Allerdings warnen die ökonomischen Berater der Bundesregierung auch, eine komplette Verschiebung der Einsparungen wäre "ebenfalls mit langfristigen Kosten in Form einer noch höheren Staatsverschuldung verbunden".
Was aber ist der Ausweg? Am Ende könnten die USA einen ähnlichen Kompromiss beschließen, wie er sich auch für Griechenland abzeichnet: Am Sparkurs wird festgehalten, aber das Land bekommt mehr Zeit. Die jetzt drohenden Einschnitte waren bereits der Versuch einer Art Schuldenbremse, die allerdings völlig unflexibel ist. Der US-Ökonom Dennis Snower forderte gegenüber SPIEGEL ONLINE, die USA sollten lieber eine Regel einführen, die eine langfristige Reduzierung der Schulden auf eine bestimmte Quote festlegt, in der Krise aber höhere Defizite erlaubt.
Den Vergleich mit Griechenland dürften US-Republikaner allerdings höchst ungern hören, schließlich stilisierten sie die südeuropäischen Länder im Wahlkampf zu Sinnbildern für den vermeintlich gescheiterten Sozialstaat. Da die Konservativen ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus verteidigt haben, könnten sie theoretisch eine Einigung sabotieren und die USA aus rein taktischen Gründen über die Klippe springen lassen.
Andererseits könnten aber die lauter werdenden Warnungen und das Ende des Wahlkampfs die Kompromissbereitschaft erhöht haben. Der republikanische Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, John Boehner, kündigte am Mittwochabend jedenfalls an, sich um eine gute Zusammenarbeit mit dem Weißen Haus zu bemühen. "Wir werden unser finanzielles Ungleichgewicht nicht über Nacht beseitigen", sagte Boehner. Aber er betonte, Washington müsse kurzfristige Maßnahmen beschließen, um das "fiscal cliff" zu umgehen: "Wir müssen gemeinsame Positionen finden."