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Umfrage Bildung, Werte, Frauenrechte - die Vermessung der Flüchtlinge

Wie qualifiziert sind Flüchtlinge? Was wollen sie erreichen? Bislang konnte nur gemutmaßt werden - nun gibt es zum ersten Mal fundierte Erkenntnisse. Ein Befund: Flüchtlinge und Deutsche denken sehr ähnlich.

Hunderttausende Menschen aus Kriegs- und Krisenländern sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen, die meisten von ihnen im Jahr 2015. Seitdem bestimmen die mit diesem Flüchtlingszuzug verbundenen Sorgen und Hoffnungen große Teile der politischen Auseinandersetzung: Ängste und Vorurteile auf der einen Seite; Hilfsbereitschaft und Optimismus auf der anderen Seite.

Ein Grund für diese Polarisierung: Viele Fragen konnten bislang nicht fundiert beantwortet werden. Wie gut (oder schlecht) ist die Bildung der Flüchtlinge? Wie viele haben eine Berufsausbildung oder einen Hochschulabschluss? Wie stehen Flüchtlinge zur Demokratie - und was verstehen sie darunter? Welche Einstellung haben sie zu Werten wie Gleichberechtigung?

Nun gibt es zum ersten Mal belastbare, repräsentative Antworten auf diese Fragen. Für eine gemeinsame Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) wurden rund 2300 Geflüchtete umfassend befragt, die seit 2013 nach Deutschland gekommen sind.

In den Jahren 2017 und 2018 sollen sie und weitere Flüchtlinge erneut befragt werden, insgesamt soll die Stichprobe am Ende mehr als 4500 Personen umfassen. (Die vollständige Studie mit vielen Ergebnissen zu Situation und Einstellungen von Flüchtlingen finden Sie hier , eine Kurzfassung der Ergebnisse hier . Weitere Hinweise zur Methodik finden Sie am Ende dieses Artikels.)

Bereits die Ergebnisse der diesjährigen Befragung sind aufschlussreich. Bei der Bildung klafft eine riesige Lücke: Viele Flüchtlinge haben eine gute Schulbildung - doch auf der anderen Seite haben relativ viele entweder gar keine oder nur eine Grundschule besucht. Bei den Einstellungen und Werten stehen die Flüchtlinge der alteingesessenen Bevölkerung in Deutschland durchweg sehr nah - wesentlich näher jedenfalls als der Bevölkerung in Krisenstaaten, aus denen ein Teil der Flüchtlinge kommt.

Ein Überblick über die wichtigsten Ergebnisse:

Ausbildungsmesse für Flüchtlinge im Jobcenter Schwerin

Ausbildungsmesse für Flüchtlinge im Jobcenter Schwerin

Foto: Bernd W¸stneck/ picture alliance / dpa


Bildung und berufliche Qualifikation


Im Bereich Bildung tritt ein Hauptbefund der Studie deutlich zutage: "Die Flüchtlinge" als Gesamtheit gibt es nicht. Vielmehr offenbart sich eine große Kluft. Auf der einen Seite gibt es viele Geflüchtete mit einer guten oder sehr guten Schulbildung - und vergleichbar langen Schullaufbahnen wie in Deutschland. Auf der anderen Seite gibt es viele Geflüchtete, die entweder gar keine Schule oder nur eine Grundschule besucht haben. Die Forscher sprechen von einer "starken Polarisation" der Allgemeinbildung von Flüchtlingen.

Folgende Grafik zeigt die schulische Bildung der Geflüchteten. Zusätzlich können Sie Informationen über die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs einblenden, indem Sie auf die entsprechenden Knöpfe in der Legende klicken.

Der Grund für diese starken Unterschiede liegt offensichtlich in der unterschiedlichen Herkunft der Flüchtlinge. In Iran und in Syrien existiert oder existierte ein leistungsfähiges und umfassendes Schulsystem, die Bevölkerung dort ist gut gebildet. In Afghanistan hingegen herrscht seit Jahrzehnten Krieg und politische Instabilität, dort sind auch große Teile des Bildungssystems zusammengebrochen oder erreichen nur ein sehr geringes Niveau.

Die Studie offenbart aber auch ein hohes Interesse an Bildung in Deutschland. Mit 46 Prozent strebt fast die Hälfte der Befragten noch einen Schulabschluss in Deutschland an - darunter also auch einige der 55 Prozent, die bereits einen höheren oder mittleren Abschluss in ihrem Herkunftsland erlangt haben.

Bei der beruflichen Bildung scheint der Nachholbedarf auf den ersten Blick noch größer: Mehr als zwei Drittel der Befragten hat keinen formalen Berufsabschluss - also weder ein abgeschlossenes Studium noch eine Berufsausbildung. Fast drei Viertel haben allerdings bereits Berufserfahrung in ihrem Herkunftsland gesammelt, wie die Grafik zeigt. Zusätzlich können Sie Informationen über die durchschnittliche Dauer der beruflichen Ausbildung einblenden, indem Sie auf die entsprechenden Knöpfe in der Legende klicken.

Der hohe Anteil an Flüchtlingen ohne formalen Berufsabschluss ist allerdings zu großen Teilen auch darauf zurückzuführen, dass die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild weltweit kaum verbreitet ist. Auch in anderen Ländern der EU oder in den USA hat ein hoher Anteil der Bevölkerung keine formale Berufsausbildung.

Auch in diesem Bereich ist der Bildungshunger der Geflüchteten groß: 66 Prozent wollen in Zukunft einen Berufsabschluss in Deutschland erreichen, mit 23 Prozent streben etwas mehr als ein Drittel davon einen Hochschulabschluss an.

Aber wie steht es mit der Einstellung der Flüchtlinge zu Demokratie und Werten?

Vorbereitungs- und Sprachkurs an der Freien Universität Berlin

Vorbereitungs- und Sprachkurs an der Freien Universität Berlin

Foto: Gregor Fischer/ dpa


Demokratie und Frauenrechte


Die Autoren der Studie kommen zu einem bemerkenswerten Schluss: "In ihren Wertvorstellungen weisen die Geflüchteten sehr viel mehr Gemeinsamkeiten mit der deutschen Bevölkerung als mit der Bevölkerung aus den Herkunftsländern auf." Um überhaupt einen Vergleich ziehen zu können, orientierten sich die Experten an den Fragen des World Values Survey, der in vielen Ländern durchgeführt wird - so auch in Deutschland.

Tatsächlich spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Geflüchteten (96 Prozent) für die Demokratie als gewünschte Staatsform aus - bei der alteingesessenen Bevölkerung in Deutschland sind es 95 Prozent. Zwar stimmen erhebliche Teile der Geflüchteten auch Aussagen zu, die dem westlichen Verständnis von Demokratie widersprechen - etwa dem Wunsch nach einem starken Führer (21 Prozent) oder danach, dass Experten statt der Regierung Entscheidungen treffen sollten (55 Prozent).

Allerdings liegt diese Zustimmung bei der deutschen Bevölkerung jeweils noch ein bisschen höher. Eine Ausnahme bildet lediglich der Wunsch, dass religiöse Führer die letzte Entscheidung treffen sollten. Hier stimmen 13 Prozent der Geflüchteten zu, bei der deutschen Bevölkerung sind es nur acht Prozent.

Vergleicht man diese Werte mit den entsprechenden Ergebnissen aus einigen Herkunftsländern der Geflüchteten, wird jedoch ein großer Unterschied deutlich. So wünschen sich dort 55 Prozent der Befragten die letzte Entscheidung durch Religionsführer. (Informationen über die Einstellung in den Herkunftsländern erhalten Sie durch Klick auf die Legende)

Wichtig: Iran, Afghanistan und Syrien - drei wichtige Herkunftsländer - fehlen im World Values Survey. Konkret wurden die Antworten aus folgenden Ländern ausgewertet: Algerien, Pakistan, Irak, Libyen, Ägypten und Jemen.

Eine ähnlich große Übereinstimmung zwischen Flüchtlingen und der alteingesessenen Bevölkerung in Deutschland ergibt sich, was die Einstellung zur Gleichberechtigung betrifft. Demnach stimmen mit 86 Prozent sogar mehr Flüchtlingen der Aussage zu, dass Arbeit die beste Möglichkeit für Frauen sei, unabhängig zu sein - selbst 85 Prozent der männlichen Flüchtlinge sehen das so, während dem unter den deutschen Männern nur 62 Prozent zustimmen. Dafür halten es tendenziell mehr Flüchtlinge als Deutsche für problematisch, wenn Frauen mehr verdienen als ihre Partner (siehe Grafik).

Hinweise zur Methodik:

Für die aktuelle Studie wurden 2349 Personen im Alter von 18 Jahren oder älter befragt, die im Zeitraum von 2013 bis Ende Januar 2016 nach Deutschland eingereist sind und einen Asylantrag gestellt haben. Befragt wurden sie von Juni bis Oktober 2016. Den Befragten wurde deutlich gemacht, dass ihre Antworten absolut anonym behandelt werden und in keiner Weise Auswirkungen auf ihr Asylverfahren haben.

Es handelt sich um die erste Befragung im Rahmen einer repräsentativen sogenannten Längsschnittstudie - das bedeutet, dass möglichst viele der Befragten auch in den kommenden Jahren erneut befragt werden. Insgesamt soll die Stichprobe am Ende mehr als 4500 geflüchtete Personen umfassen.

Die aktuelle und die folgenden Studien sollen als Teilstichprobe in das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) integriert werden - das ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung von rund 30.000 Personen in fast 11.000 Haushalten in Deutschland, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seit 1984 beauftragt. Die Qualität des SOEP gilt als extrem hoch.

Konkret durchgeführt wurde die Befragung der Geflüchteten durch das Umfrageinstitut Kantar Public (früherer Name: TNS Infratest Sozialforschung), das auch die anderen SOEP-Befragungen durchführt. Die Geflüchteten wurden persönlich bei ihnen zu Hause (unter Umständen also auch in Gemeinschaftsunterkünften) befragt. Fragebögen lagen in sieben Sprachen vor, bei Bedarf wurden Dolmetscher hinzugezogen.

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