Armutsmigration Wie Wirtschaftsflüchtlinge Deutschland geprägt haben

Auswanderer am Hamburger Hafen: Hoffen auf ein besseres Leben
Foto: Handout/ Getty ImagesWer ins Duisburger Telefonbuch schaut, entdeckt sie auf den ersten Blick: die Kwasniewskis, Pawlowskis, Özdemirs und Diaz. Die Menschen hinter diesen Namen sind meist längst deutsche Staatsbürger. Doch ihre Vorfahren kamen einst ins Ruhrgebiet, weil sie sich hier Arbeit und ein besseres Leben versprachen. Sie sind geblieben, haben das Land mitgeprägt. Ohne sie sähe die Bundesrepublik anders aus.
Heute stehen die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge ganz unten in der Hierarchie der Migranten. Den syrischen Anwalt, der vor dem Bürgerkrieg geflüchtet ist, heißen die deutschen Bürger und Behörden mittlerweile gleichermaßen willkommen. Den albanischen Maurer wollen viele aber lieber nicht hier haben.
Dabei können auch die Armutsmigranten ein Land bereichern. "Wer wandert, ist motiviert und bringt oft genug Kenntnisse und Fähigkeiten schon mit", sagt der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl von der London School of Economics. "Die sprichwörtliche amerikanische Tellerwäscherkarriere ist eine Einwandererkarriere."
Die Armutsmigration gehört von Beginn an auch zu Deutschland. So lange es dem Land gut ging, wanderten immer wieder große Bevölkerungsgruppen ein - in der Hoffnung, hier eine Arbeit zu finden und damit genügend Geld zu verdienen, um ihre Familie zu ernähren. In schlechten Zeiten hingegen suchten viele Deutsche ihr Glück im Ausland. So wie sich in Duisburg heute viele polnische, türkische, spanische oder serbische Namen finden, durchziehen deutsche Namen Städte in den USA oder in Brasilien.
"Das Kommen und Gehen ist charakteristisch für Deutschland", sagt Simone Eick, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven. Vor allem im 19. Jahrhundert hätten Millionen Menschen ihr Glück in Übersee gesucht. "Zugleich hat sich die deutsche Wirtschaft schon immer an ausländischen Arbeitskräften bedient." So sei etwa das deutsche Wirtschaftswunder in den Fünfzigerjahren "auch durch Türken, Spanier und Portugiesen zustande gekommen".
Wer kam wann? Und wie viele gingen? Eine Übersicht der wichtigsten wirtschaftlich motivierten Wanderungsbewegungen in Grafik, Bildern und Texten.

Die wichtigsten Einwanderungsbewegungen:
"Ruhrpolen":

Bergarbeiter an der Ruhr: Nur rund ein Drittel der "Ruhrpolen" blieb dauerhaft
Foto: CorbisDas Deutsche Reich ist gerade mal gegründet, da kommen die Polen. Sie suchen Arbeit und finden sie in den Zechen an der Ruhr. Die aufkommende Industrialisierung hat aus dem verschlafenen Ruhrgebiet die Boom-Region des Landes gemacht. Entsprechend groß ist die Nachfrage nach Arbeitskräften. Innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfacht sich ab 1870 die Einwohnerzahl. 1914 leben mehr als 400.000 polnischsprachige Arbeiter im Ruhrgebiet. Nur etwa 150.000 bleiben dauerhaft.
Gastarbeiter:

Türkische Gastarbeiter (1962): Teil des Wirtschaftswunders
Foto: Hub/ dpaDer Krieg ist noch keine zehn Jahre vorbei, da beginnt in Deutschland das Wirtschaftswunder. Die heimische Bevölkerung kann die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskräften kaum stillen. 1955 schließt die Bundesrepublik deshalb das erste Anwerbeabkommen mit Italien. In den Sechzigerjahren folgen entsprechende Vereinbarungen mit Ländern wie Spanien, der Türkei, Griechenland und Jugoslawien. Insgesamt ziehen so zwischen 1955 und 1973 rund 14 Millionen sogenannte Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Rund drei Millionen von ihnen bleiben - und holen später ihre Familienangehörigen nach.
Übersiedler aus der DDR:

Notaufnahmelager Marienfelde im August 1961: Raus aus der DDR
Foto: DPAInsgesamt 4,5 Millionen Menschen zieht es zwischen 1950 und 1990 aus der DDR in die Bundesrepublik, die meisten von ihnen kommen in den Fünfzigerjahren, noch vor dem Mauerbau. Sie sind auf der Suche nach politischer Freiheit, doch viele lockt auch das bundesdeutsche Wirtschaftswunder. Ein Kühlschrank, ein Fernseher, ein Auto - plötzlich scheinen die Vorzüge des Kapitalismus greifbar.
Aussiedler und Spätaussiedler:

Aussiedlerfamilie in Unna-Massen (1989): Flucht aus der Sowjetunion
Foto: imagoDeutschstämmige in Osteuropa dürfen bereits ab den Fünfzigerjahren als sogenannte Aussiedler nach Deutschland zurückkehren. Bis Anfang der Achtzigerjahre machen davon aber vergleichsweise wenige Menschen Gebrauch. Erst dann beginnt eine größere Migrationsbewegung. Von 1980 bis 1999 kommen rund drei Millionen Aussiedler und Spätaussiedler nach Deutschland. Ihren Höhepunkt erreicht diese Welle Anfang der Neunzigerjahre, als die Sowjetunion zerfällt. Zwischen 1990 und 1994 erreichen fast 1,3 Millionen Menschen die Bundesrepublik.
Die wichtigsten Auswanderungsbewegungen:
Flucht nach Amerika

Ellis Island in New York: Eine deutsche Einwandererfamilie wird registriert
Foto: Lewis W. Hine/ Getty ImagesEin harter Winter trifft 1816 das Gebiet des Deutschen Bundes. Vor allem im Südwesten entschließen sich deshalb erste Bauernfamilien auszuwandern. Ihr Ziel ist Amerika. Im Laufe der Jahre breitet sich der Ruf aus der Neuen Welt auch im Norden aus. Viele Kleinbauern merken, dass sich ihr Beruf ohne Nebentätigkeiten kaum mehr lohnt. Oft sind Missernten dann der konkrete Anlass für sie, zu gehen. Sie packen ihr Hab und Gut zusammen und brechen auf - mit dem Schiff über den Atlantik. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts sind es mehr als fünf Millionen Menschen, die sich auf den Weg machen. Die Bewegung verläuft in Wellen. Höhepunkte gibt es in den Jahren 1852 bis 1854 und 1880 bis 1882 mit jeweils mehr als einer halben Million Auswanderern. Die meisten von ihnen zieht es in die USA, aber auch Brasilien und Argentinien sind beliebte Ziele.
Die große Inflation

Hyperinflation 1923: Wenn das Geld nichts mehr wert ist
Foto: Three Lions/ Getty ImagesNach dem ersten Weltkrieg beginnt eine weitere Auswanderungswelle. Viele Menschen sehen im Nachkriegsdeutschland für sich keine Perspektive - auch sie zieht es in die USA, wo die Möglichkeiten noch immer groß sind. In Deutschland ist vor allem die Krise groß. Im Jahr der Hyperinflation 1923 wandern 115.000 Menschen aus.
Nachkriegszeit

Trümmerfrauen in Berlin: Nicht alle erwarten ein gutes Leben in Deutschland
Foto: Ursula Rˆhnert/ picture alliance / dpaNach dem Zweiten Weltkrieg liegt Deutschland am Boden. Städte und Industrieanlagen sind zerstört. Viele Menschen sehen hier keine Zukunft. Millionen Vertriebene strömen aus den ehemaligen Ostgebieten in die neu entstehende Bundesrepublik. Aber viele von ihnen finden sich nur schwer zurecht - da hilft auch das Wirtschaftswunder wenig. Es beginnt eine neue Auswanderungswelle: Zwischen 1948 und 1961 besteigen mehr als eine halbe Million Menschen die Schiffe nach Übersee. Außer den USA sind die Hauptzielländer diesmal Kanada und Australien.
Die Kinder der Globalisierung

Schweizer Plakat gegen Masseneinwanderung: Nicht überall willkommen
Foto: Thomas Burmeister/ picture alliance / dpaKurz nach der Jahrtausendwende gilt Deutschland als "kranker Mann Europas" - geprägt von verkrusteten Strukturen, schwachem Wirtschaftswachstum und fast fünf Millionen Arbeitslosen. Die deutsche Tristesse treibt gerade junge Menschen ins Ausland - auf der Suche nach einem Job landen sie in den USA, in Österreich oder in der Schweiz. Im Privatfernsehen werden Sendungen wie "Goodbye Deutschland" zum Quotenhit. Insgesamt wandern zwischen 2004 und 2013 rund 1,5 Millionen Deutsche aus. Mit gut 200.000 Personen ist die Schweiz das wichtigste Aufnahmeland. Doch nicht überall sind die deutschen Migranten willkommen. In der Schweiz spricht sich bei einer Volksabstimmung Anfang 2014 eine knappe Mehrheit gegen die vermeintliche "Masseneinwanderung" aus - gemeint sind auch die deutschen Zuwanderer.