Henrik Müller

Proteste in Frankreich Präsident Macron und die unordentliche Demokratie

Emotionen statt Inhalte, Facebookgruppen statt Gewerkschaftsarbeit: Der Aufstand der "Gelbwesten" zeigt, wie stark unsere politische Ordnung im Umbruch ist. Wird der Westen unregierbar?
Proteste in Frankreich

Proteste in Frankreich

Foto: Ian Langsdon/ EPA-EFE/ REX

Kurz nach der Wahl stieg die Stimmung merklich. Soeben hatten die Franzosen Emmanuel Macron zum Staatspräsidenten gekürt, da zeigten Umfragen: Im Lande kam sowas wie Zuversicht auf.

Das war neu. Zuvor herrschte in Frankreich Pessimismus wie nirgends sonst in Westeuropa. Tristesse - das war das Grundgefühl. Doch im Mai 2017 fielen in diese Düsternis ein paar Sonnenstrahlen. Eine Mehrheit der Franzosen glaubte plötzlich, die Wirtschaftslage werde sich binnen Jahresfrist verbessern. Der Anteil derjenigen, die meinten, das Land entwickle sich in die falsche Richtung, sank um sagenhafte 33 Prozentpunkte, wie Eurobarometer-Umfragen zeigten.

Klar, Frankreich war auch damals kein Land der Euphorie. Aber der Stimmungsumschwung war doch bemerkenswert. Entsprechend holte Macrons Bewegung La Republique En Marche, kaum ein Jahr alt, bei den folgenden Parlamentswahlen im Juni vorigen Jahres eine beeindruckende Mehrheit.

Macron wurde wie ein Star gefeiert. Bürger verhielten sich wie Fans. Aber wie das mit Fans so ist: Sie können ziemlich untreu sein.

Anderthalb Jahre später bestimmen die Gilets Jaunes ("gelbe Westen") die Stimmung im Land. Sie richten sich gegen Macrons Politik und gegen ihn persönlich. Fast drei Viertel der Bürger finden, die Demonstranten haben recht. Die Beliebtheitswerte des Präsidenten sind im Keller. Montag muss sich seine Regierung in der Nationalversammlung einem Misstrauensantrag stellen.

Der Umschwung zeigt, wie Politik inzwischen funktioniert. Alles fließt. Stimmungen wechseln rasch. Traditionelle Institutionen - Parteien, Gewerkschaften, Verbände - bestimmen nicht mehr den Kurs, sondern Personen und Bewegungen. Gefühle sind häufig wichtiger als Argumente.

Es geht um Stilfragen, mehr als um Inhalte

Auch an Deutschland geht dieser politische Strukturwandel nicht vorbei. Die Lage ist gegenwärtig nur deutlich günstiger als in Frankreich. Aber das kann sich schnell ändern.

Die Mechanismen der Politik sind dabei, sich fundamental zu verändern. Politik verlagert sich in die Arena der Öffentlichkeit. Und da herrschten inzwischen neue Formen des "politisierten Fantums", wie das der britische Politologe Jonathan Dean nennt. 

Es ist von Gefühlen getrieben, auf einzelne Figuren zentriert, auf die die Gefolgschaft ihre Hoffnungen und Wünsche projiziert. Früher fanden sich gesellschaftliche Gruppen und Milieus zusammen, die gemeinsame Werte und Interessen teilten - und die dann über lange Zeit ein und dieselbe Partei unterstützten. Nun begeistern sich viele Bürger für einzelne, häufig schillernde Figuren. Programme und Fakten sind nebensächlich.

Donald Trump kann sich aufführen, wie er will. Seine Fans stehen - bislang - hinter ihm. Bernie Sanders genießt auf der linken Seite des US-Spektrums ähnliche Unterstützung. In Großbritannien hat sich in den vergangenen Jahren eine "Corbyn-Mania" breitgemacht; jahrelang war Labour-Chef Jeremy Corbyn ein unbedeutender Hinterbänkler, der rückwärtsgewandt erscheinenden sozialistischen Ideen anzuhängen schien. Nun ist er Kult.

Auch Macron wurde voriges Jahr in Frankreich als Heilsbringer gefeiert. Was überraschend war, denn er versprach den Bürgern keineswegs das Blaue vom Himmel, sondern ein hartes Reformprogramm. Liberalisierung des Arbeitsmarkts, höhere Belastungen für die Bürger, weniger Privilegien für Staatsbedienstete, niedrigere Steuern für Unternehmen - solche Sachen. Eine Menge Zumutungen, die sich aber, so sein Versprechen, auf längere Sicht auszahlen sollten.

Eigentlich verhielt sich Macron, wie es sich für einen guten Demokraten gehört: Er legte seine Pläne vor der Wahl offen, holte sich bei den Bürgern ein Mandat für eine straffe, technokratisch anmutende Reformpolitik. Nun setzt er dieses Programm Schritt für Schritt um. Eine Reform nach der anderen, zur Not per Präsidialdekret entschieden.

Viele Franzosen sind damit unzufrieden. Nicht nur weil sie inzwischen die unmittelbaren negativen Effekte zu spüren bekommen, bevor die versprochenen langfristigen Verbesserungen eintreten können. Auch, weil sie Macron abgehoben und arrogant finden. Sie sind persönlich enttäuscht, nicht unbedingt politisch desillusioniert. Fans, die sich abwenden. Es geht um Stilfragen, vielleicht mehr als um Inhalte.

Gelbe Westen, rote Linien

Macron, der selbst das bestehende Parteiensystem mit seiner damals neuen Bewegung En Marche! zum Einsturz gebracht hatte, hat nun ein neues Mouvement gegen sich: Die "Gelbwesten" sind eine Bewegung von unten, die sich zunächst gegen die geplanten höheren Treibstoffsteuern gestellt hatte, inzwischen aber einen kompletten Kurswechsel fordert - und so viele Franzosen auf ihrer Seite hat, dass sich die Regierung gezwungen sah, die Erhöhung der Kraftstoffsteuern zurückzunehmen.

Beides wäre im Zeitalter vor den sozialen Medien kaum denkbar gewesen: Ohne Twitter, Facebook & Co. hätte weder Macron binnen Monaten eine Bewegung und eine Kampagne aus dem Boden stampfen können, die ihn bis in die Machtzentrale des Staates trug. Noch hätten es die "Gelbwesten" geschafft, sich selbst zu organisieren.

Auch gegen frühere Reformer gab es in Frankreich laute und manchmal gewalttätige Proteste. Doch sie waren getragen von Gewerkschaften und linken Parteien, von Institutionen also, mit denen man verhandeln konnte und die selbst einen Teil der Macht wollten - also letztlich Kompromisse machen mussten. Die "Gelbwesten" haben nicht mal Anführer geschweige denn formale Strukturen.

Mit den neuen Protestbewegungen verändert sich Grundlegendes in der Politik. Man kann nicht mit ihnen verhandeln, und man kann sie kaum politisch zur Rechenschaft ziehen. Sie setzen politische Forderungen durch, ohne dafür am Ende gerade stehen zu müssen. Frankreich braucht Reformen, vielleicht nicht eins zu eins das Macron-Programm. Aber dass es auf Dauer nicht weitergehen konnte wie zuvor - mit immer weiter steigenden Schulden und bröckelnder Wettbewerbsfähigkeit -, war offensichtlich. Eine Partei kann man für Nichthandeln zur Verantwortung ziehen, eine Bewegung, die sich spontan bildet, nicht.

Liebe, Hass und Wahrheit

Die Regierungsform der Demokratie braucht Vernunft, um gute Ergebnisse zu erzielen. Die Hyper-Mediatisierung der Politik begünstigt jedoch eine hochgradige Emotionalisierung. So argumentiert der britische Politologe Dean, die Bürger seien angesichts der überwältigen Fülle von Medienangeboten schlicht überfordert - was einer vernünftigen und sachlichen Befassung mit Politik abträglich sei. Es ist deshalb einfacher, sich emotional einem Polit-Star - oder einem ganzen Team - zu verschreiben, als sich ernsthaft mit den wichtigsten politischen Inhalten auseinanderzusetzen.

Zuviel Gefühl wiederum trägt zur Polarisierung von Politik bei. So hat Patrick Miller von der Universität Kansas herausgefunden, dass sich viele Anhänger der amerikanischen Demokraten und Republikaner verhielten wie Sportfans - man liebt das eigene Team und hasst das gegnerische.  "Für zu viele geht es nicht um gutes Regieren oder themenbasierte Ziele", gab Miller zu Protokoll. Es gehe nur darum, die Gegenseite zu schlagen. "Das ist beunruhigend."

Und Deutschland? Bislang sind wir von derlei Gefühlsexzessen noch recht weit entfernt. Die nüchternen Jahre unter Angela Merkel sind noch nicht ganz vorbei. Doch auch hier gerierte sich die SPD als Fanklub, als sie Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten machte - und wurde seiner rasch wieder überdrüssig.

Zu welcher Kraft sich neue Bewegungen auch hierzulande aufschwingen können, wurde vor einigen Jahren sichtbar, als die Anti-TTIP-Kampagne zuerst das Netz und dann die Straße eroberte - und damit das USA-EU-Freihandelsabkommen kippte, bevor ins Weiße Haus der Protektionist Donald Trump einzog.

Man darf gespannt sein, was in Deutschland los ist, wenn Deutschland von der nächsten Wirtschaftskrise heimgesucht wird - und abermals schmerzhafte Reformen anstehen.

Video: Tränengas gegen "Gelbwesten"

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