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Arbeit, Rente, Europa Macron oder Macrönchen?

Emmanuel Macron wird als Retter Frankreichs und Europas gefeiert. Die Frage ist, wie weit der neue Präsident mit seinen Wirtschaftsreformen kommt. Was er jetzt anpacken muss.

Für einen echten Revolutionär ist Emmanuel Macron fast schüchtern in der Nacht seines großen Triumphs. "Revolution" hatte der Sieger der Präsidentschaftswahl sein kürzlich veröffentlichtes Buch betitelt: eine Mischung aus Autobiografie und seiner politischen Vision für Frankreich. Aber als am Sonntagabend sein Sieg feststeht, liest Macron zunächst aus einem Studio eine Ansprache ab, die so unkonkret ist, dass sie niemandem wehtut. Und als der 39-Jährige später am Louvre vor seine jubelnden Fans tritt, warnt er: "Unsere Aufgabe ist immens."

Macron will die Erwartungen dämpfen nach seinem sensationellen Wahlsieg, den er ohne echte politische Partei im Rücken errungen hat. Als Wirtschaftsminister unter François Hollande musste er lernen: Dieses Land lässt sich nicht einfach umkrempeln - obgleich es sich erneuern muss.

Seit der Weltfinanzkrise bleibt Frankreich beim Wachstum hinter Deutschland zurück. Hatte die Grande Nation 2007 noch 1,5 Millionen Arbeitslose weniger als die Bundesrepublik, sind es heute rund 300.000 mehr: an die drei Millionen.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit fast 24 Prozent deutlich höher als in Deutschland, die Staatsschuldenquote nähert sich 100 Prozent. Und im Wettbewerbsfähigkeits-Ranking des World Economic Forum ist Frankreich seit 2011 von Platz 15 auf 21 abgerutscht. All dies ist die Folge jahrelanger politischer Blockaden und Reformstaus.

Aber wer könnte sie auflösen, wenn nicht Macron? "Wir beobachten in Frankreich eine Aufbruchstimmung", sagt der Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer dem SPIEGEL. "Macron hat eine hohe moralische Legimitation als Kandidat des Wandels." Auch für Clemens Fuest, den Chef des Münchner Ifo-Instituts, ist der Wahlsieger "der bestpositionierte Kandidat, um Reformen voranzubringen". Er sei politisch keinem Lager festgelegt und zeige Erneuerungswillen, sagt Fuest. "Macron ist eine Chance für Frankreich und für Europa. Die Frage ist, wie weit er mit den Reformen kommt."

Arbeitsagentur in Nizza

Arbeitsagentur in Nizza

Foto: Eric Gaillard/ REUTERS

  • Besonders groß ist der Erneuerungsbedarf am Arbeitsmarkt. "Die 35-Stunden-Woche, die sehr hohen Mindestlöhne von 62 Prozent des mittleren Einkommens und der strenge Kündigungsschutz schrecken viele Unternehmen davon ab, neu einzustellen", sagt Commerzbank-Ökonom Krämer. Vor allem junge Leute bekommen oft keinen Job oder nur prekäre Arbeitsverträge. Die Gewerkschaften, allen voran die linke CGT, beharren auf Besitzständen ihrer Mitglieder. Das Misstrauen des mächtigen CGT-Chefs Philippe Martinez gegenüber Macron ist so groß, dass er sich nicht einmal vor der Stichwahl gegen Le Pen zu einer Wahlempfehlung für den Kandidaten der Mitte durchringen konnte.

    Die Chancen: "Ein Reformdurchbruch ist unwahrscheinlich", sagt Krämer. Die ganz schwierigen Themen wie die 35-Stunden-Woche oder die Mindestlöhne für die bereits Beschäftigten werde Macron kaum anfassen, sagt Fuest. "Aber ich könnte mir vorstellen, dass er versuchen wird, Kompromisse durchzukriegen: dass es etwa für Neueinstellungen einen reduzierten Kündigungsschutz gibt oder dass die 35-Stunden Woche für kleine und mittlere Unternehmen etwas gelockert wird. Dies könnte schon den Jugendlichen und anderen Problemgruppen helfen."
  • Beim Rentensystem muss Macron darauf achten, die Lohnnebenkosten nicht aus dem Ruder laufen zu lassen Zwar liegt die Geburtenrate in Frankreich deutlich höher als in den meisten mitteleuropäischen Ländern, aber die Franzosen werden auch immer älter. Und das Renteneintrittsalter beträgt paradiesische 62 Jahre. Zur Rente mit 62 hat Macron bisher wenig gesagt. Abschaffen will er die Spezialrenten und Sonderkassen, von denen insbesondere privilegierte Mitarbeiter von Staatsunternehmen profitieren. Künftig sollen alle Rentner und Pensionäre unabhängig von ihrer vorherigen Beschäftigung pro eingezahlten Euro gleich viel ausgezahlt kriegen. Zudem will Macron die Mindestrenten erhöhen.

    Die Chancen: Beim Abschaffen der Besitzstände auf dem Arbeitsmarkt wie auch im Rentensystem erwartet Macron Widerstand - zumal er auch 120.000 Stellen im öffentlichen Sektor streichen will. "Er wird auf gut organisierte Interessengruppen treffen, da wird es schwer werden, viel einzusparen", sagt Fuest. "Sinnvoll wäre es, die Bevölkerung verstärkt auf künftige Lasten einzustellen, etwa indem man beschließt, das Rentenalter schrittweise in der Zukunft zu erhöhen und einen Nachhaltigkeitsfaktor einzuführen."

Arbeiter einer Metallfabrik im französischen Outreau im März 2017

Arbeiter einer Metallfabrik im französischen Outreau im März 2017

Foto: PHILIPPE HUGUEN/ AFP


  • Die Wirtschaft befeuern möchte Macron mit einem groß angelegten Investitionsprogramm. Insgesamt 50 Milliarden Euro werde er dabei ausgeben, versprach er: für die Förderung von Ausbildung von Jugendlichen, regenerative Energien, Gesundheit und Landwirtschaft.

    Die Chancen: Die Pläne kommen gut an beim Volk. Aber wie kann es Macron gleichzeitig gelingen, die Staatsquote zu senken? Und woher sollen die Milliarden herkommen, zumal Macron die Unternehmensteuer senken und die Arbeitslosenversicherung von einem beitragsfinanzierten auf ein steuerfinanziertes System umstellen will? Umsetzbarkeit: schwierig.

Macron am 26. April

Macron am 26. April

Foto: ERIC FEFERBERG/ AFP


  • Am liebsten wäre es Macron, sich das Geld über Europa zu beschaffen. Macron hat sich im Wahlkampf immer wieder für ein spezielles Eurozonenbudget ausgesprochen, das derlei Konjunkturprogramme finanzieren soll; Sigmar Gabriel hat ihn dabei unterstützt. Finanzieren will Macron das Budget über eine Gemeinschaftsteuer. Zudem hat er sich immer wieder dafür ausgesprochen, die Aufnahme von Schulden durch die Ausgabe von Eurobonds zu vergemeinschaften.

    Die Chancen: Mit der derzeitigen Bundesregierung wird das wohl nicht klappen. Eurobonds oder andere Formen der gemeinschaftlichen Haftung für Schulden werde es nicht geben, "solange ich lebe", hat Angela Merkel vor fünf Jahren geschworen. Auch aus Macrons Wunsch nach einem gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzminister für den Euroraum wird so schnell nichts, prophezeit Commerzbank-Ökonom Krämer. "Es war noch nie so klar wie heute, dass der Euroraum mehr gemeinsame Wirtschaftspolitik braucht. Es war aber auch nie so klar, dass viele Bürger genau das nicht wollen. Sie wollen Kontrolle über die Wirtschafts- und Finanzpolitik wieder auf der Ebene des Nationalstaats sehen."

    Dennoch biete Macrons Wahl der Eurozone die Möglichkeit für mehr Zusammenarbeit, meint Ifo-Chef Fuest. "Auch Deutschland sollte sich nicht grundlegend verweigern gegenüber der Idee eines Eurozonenfonds, einer Art Versicherung, in die alle einzahlen und der Ländern hilft, die in tiefe Krisen fallen." Darüber sollte man aber nur reden, wenn gleichzeitig Elemente der No-Bailout-Klausel glaubwürdig gestärkt würden. Diese besagt, dass die Staaten innerhalb des Verbunds nicht füreinander einstehen müssten.

Fazit: Frankreich und auch Europa brauchen Reformen, aber der Widerstand bei den etablierten Institutionen Frankreichs und bei den europäischen Partnern ist voraussichtlich zu stark für einen großen Wurf Macrons. Der neue Präsident wird daher wahrscheinlich kleinere Schritte gehen müssen, um voranzukommen. Und maßgeblich entscheidend dafür, ob Macron seine Vorstellungen durchsetzen kann, wird das Ergebnis der Parlamentswahl am 11. und 18. Juni sein.

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