
Wunsch fürs Wahljahr Frankreichs Selbstmitleid ist übertrieben


Eiffelturm in Paris
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Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in Berlin, Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied im Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.
Foto: teutopress / IMAGOJeder Europäer sollte eigentlich eine Stimme bei den kommenden französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen haben. Diese Wahlen sind so wichtig für Frankreich wie wenige seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber sie sind auch für Europa entscheidend. Denn ohne ein starkes, geeintes und selbstbewusstes Frankreich wird Europa den Weg aus seiner Krise nicht finden.
Meine Selbstbeschreibung als "Europäer und Deutscher" wird gerne belächelt. Geht das überhaupt, Europäer sein? Es gibt ja keinen europäischen Staat! Ich sage: Ja, man kann Europäer und Deutscher sein, genauso wie man Pariser und Franzose, Bayer und Deutscher sein kann. Ich habe einen französischen Vornamen, weil meine Eltern große Bewunderung für Marcel Marceau hegten. Dem französischen Künstler gelang es auf eindrucksvolle Art, dank seiner eigenen universellen Sprache, nationale Grenzen zu überwinden.
Auch über meinen Vornamen hinaus bedeutet mir Frankreich viel, weil ich als Bürger Europas von der Vielfalt der Kulturen und Nationen der EU geprägt werde. Es gibt eine europäische Identität und Frankreich war und ist ein erheblicher Bestandteil davon.
Als Europäer und Deutscher bin ich zutiefst besorgt über Frankreich und was aus dem Land, und aus ganz Europa, nach den Wahlen werden könnte. Frankreich befindet sich in einer mentalen Depression. Das Land weist kaum noch Gemeinsamkeiten mit dem Frankreich auf, das einst mit Stolz seine wirtschaftlichen Errungenschaften, seinen sozialen Ausgleich und seine Kultur in der Welt präsentierte, das die Geschicke Europas in den vergangenen sieben Jahrzehnten entscheidend gestaltet hat.
Es scheint ein Land geworden zu sein, das zerstritten und uneins ist, sein wirtschaftliches Potenzial verkennt und die Stärken seiner kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt verleugnet. Es ist ein Land geworden, das sich der Welt verschließt, über Europa klagt und mit sich selbst im Unreinen ist.
Deutschlands Euphorie über seine vermeintliche Stärke
Frankreich hat zweifelsohne große wirtschaftliche und soziale Probleme, dennoch sind seine mentale Depression und das Selbstmitleid übertrieben - und beides ist schädlich. Genauso übertrieben und schädlich übrigens, wie Deutschlands Euphorie über seine vermeintliche wirtschaftliche Stärke.
Die französische Volkswirtschaft ist, gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt, seit dem Beginn der Währungsunion 1999 um drei Prozent stärker gewachsen als die deutsche. Die Produktivität hat sich in Frankreich besser entwickelt als in Deutschland. Franzosen haben eine der höchsten Geburtenraten in Europa, Deutschland dagegen eine der niedrigsten. Frankreich hat viele Gründe, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen.
Das Land befindet sich aber gleichzeitig in einer ähnlichen wirtschaftlichen Lage wie Deutschland im Jahr 2000: Damals litt auch unser Land unter einer mentalen Depression, es redete sich schlecht, das Vertrauen von Bürgern und Unternehmen war gering, die Arbeitslosigkeit hoch und die Einkommen gingen zurück. Gerade Deutschlands Erfahrung als "kranker Mann Europas" vor 15 Jahren kann Frankreich als Beispiel dafür dienen, wie wichtig und hilfreich mutige Reformen sind. Deutschland aus jenen Jahren ist das beste Beispiel dafür, dass ein Land häufig erst mit dem Rücken zur Wand stehen muss, bevor seine Regierung die notwendigen mutigen Reformen umsetzt, wie Deutschland es damals tat.
Die Agenda 2010 zum Beispiel war deutlich weniger maßgeblich für die wirtschaftliche Erholung Deutschlands, als viele heute glauben. Aber sie diente als wichtiger Weckruf und Auslöser für einen Mentalitätswandel, der zu einer ungewöhnlich starken Kooperation zwischen Staat, Unternehmen und gesellschaftlichen Gruppen geführt hat.
Ich habe drei Wünsche und Hoffnungen, was die französischen Wahlen angeht:
- Mein erster Wunsch ist, dass Frankreich zu seinen Stärken zurückfindet, dass es einen Präsidenten und eine Regierung bekommt, die den Mut aufbringen, das Land grundlegend zu reformieren. Diese neue Führung muss die soziale Ungleichheit und die Spannungen in Frankreich adressieren. Sie muss durch ein inklusiveres und durchlässigeres Bildungssystem und einen offeneren Arbeitsmarkt mehr Chancengleichheit schaffen.
Der neue Präsident und die neue Regierung müssen die Wirtschaft weiter reformieren, vor allem den Arbeitsmarkt flexibler gestalten; Produktmärkte öffnen und mehr Wettbewerb schaffen, so dass Unternehmen wieder mehr investieren und damit neue, gute Jobs schaffen und letztlich Wachstum und Wohlstand generieren. Die Sozialversicherungssysteme müssen grundlegend erneuert werden, damit die Absicherung der Älteren nicht zulasten der Zukunftschancen der jungen Generation geht.
- Mein zweiter Wunsch ist eine neue französische Regierung, die sich zu Europa bekennt und dort wieder eine Führungsrolle übernimmt. Europa braucht ein starkes und geeintes Frankreich, das Vorbild ist und zugleich eine Vision einbringt. Frankreich muss wieder eine treibende Kraft zur Vollendung der europäischen Integration werden.
Die neue Regierung in Paris sollte sich für die Vollendung der Bankenunion, für eine Beschleunigung der Kapitalmarktunion, eine Fiskalunion und engere Kooperation in den Bereichen Sicherheit, Verteidigung und Außenpolitik einsetzen. Dies erfordert eine neue europäische Verständigung, einen "Grand Bargain" vor allem zwischen Frankreich und Deutschland darüber, wie und in welchen Bereichen Verantwortung für die Gemeinschaft beziehungsweise auf nationaler Ebene verbleiben soll.
Sowohl Frankreich als auch Europa würden extrem leiden, wenn sich die neue französische Führung aus ihrer Verantwortung für Europa verabschieden, Europa und den Euro für die politischen Fehler der Vergangenheit und die wirtschaftlichen Schwächen von heute verantwortlich machen würde. Wir können wenig anfangen mit einem Partner, der, wie es in der Vergangenheit teilweise der Fall war, glaubt, Frankreich sei etwas Besonderes und stehe über den europäischen Regeln. Europa braucht kein Frankreich, das für sich eine Sonderrolle in Anspruch nimmt, sondern eines, das eine besondere Verantwortung übernimmt.
- Mein dritter Wunsch ist ein Präsident und eine Regierung für Frankreich, die starke und selbstbewusste Partner für Deutschland sind. Ohne die Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern in den vergangenen sieben Jahrzehnten gäbe es das heutige Europa nicht. Es wäre ein Europa, das wirtschaftlich, sozial und kulturell sehr viel ärmer wäre.
Was Deutschland aus Frankreich braucht
Deutschland braucht konstruktive Kritik aus Frankreich. Deutschland ist vergleichsweise gut durch die globale und europäische Krise gekommen. Aber das Land ist dabei, sich wirtschaftlich zu überschätzen. Frankreich muss Deutschland daran erinnern, dass es noch vor zehn Jahren sehr ähnliche Probleme der sozialen Ungleichheit hatte, wie Frankreich jetzt.
Deutschland braucht ein Frankreich, das es mahnt, dringend notwendige Reformen anzustoßen. Dazu gehört die Öffnung vieler Dienstleistungsbereiche, die Stärkung privater Investitionen, mehr öffentliche Investitionen in Bildung und Innovation und mehr Offenheit gegenüber externer Kritik.
Deutschland braucht ein Frankreich, das ihm dabei hilft, zu verstehen, dass ein hoher Handelsüberschuss nicht ein Zeichen der Stärke, sondern vor allem ein Zeichen von Schwäche und Ungleichgewichten ist.
Und es braucht ein Frankreich, das wieder als kollegialer, kritischer aber konstruktiver Partner dient. Deutschland kann nicht die alleinige, dominante Führungsverantwortung für Europa übernehmen. Auch dafür braucht Deutschland Frankreich als Partner.
Frankreich sollte sich bewusst machen, dass das Potenzial seiner Wirtschaft und Gesellschaft viel größer ist, als von vielen angenommen. Für Europa und Deutschland ist ein mutiges, geeintes und selbstbewusstes Frankreich unerlässlich.
Dieser Beitrag erscheint ebenfalls an diesem Mittwoch auf Französisch in der Zeitung "Le Monde".