
G-20-Gipfel in Pittsburgh Schöne neue Weltordnung
Wenn sich Historiker in einigen Jahren und mit gebührendem Abstand der Finanzkrise annehmen, werden sie ihr Augenmerk möglicherweise nicht nur auf die wirtschaftlichen Auswirkungen richten. Die Finanzkrise, so könnte ihre These lauten, hat die geopolitischen Gleichgewichte massiv verschoben. Und möglicherweise wird man die Krise als den Durchbruch zu einer neuen Weltordnung verstehen. Vieles spricht für die Richtigkeit dieser Aussage. Und Ansätze davon sind beim G-20-Gipfel in Pittsburgh deutlich erkennbar.
Um die sich abzeichnende Entwicklung zu verstehen, muss sich vor allem der Westen von seinem Scheuklappenblick auf die eigene Haustüre - und damit von einigen weit verbreiteten Klischees - trennen.
Allem voran: Die Finanzkrise ist keine globale Krise, auch wenn in den Zeitungen täglich das Gegenteil steht. Riesige Volkswirtschaften wie China oder Indien erleben zwar einen Einbruch beim Wachstum - aber verglichen mit den Abstürzen der westlichen Staaten mit einem ausgeprägten Finanzsektor handelt es sich lediglich um eine kleine Delle. Das gilt auch für Brasilien, Argentinien, Südafrika, Saudi-Arabien, ja selbst Australien.
Die Mehrzahl der G-20-Länder ist von der Krise nur mittelbar und teilweise nur marginal betroffen. Ein Vertreter Indonesiens hat es kürzlich gegenüber einem deutschen Verhandlungsführer auf den Punkt gebracht: "Von der Krise merken wir praktisch gar nichts", sagte er, "unser Finanzsystem war schlicht und ergreifend zu wenig entwickelt" - deswegen hätten die Banken des Landes all die gefährlichen Produkte gar nicht gekauft.
Armut ist für viele Staaten ein wichtigeres Thema als Banker-Boni
Daraus aber ergibt sich fast zwingend, dass die Finanzkrise für die Welt als Ganzes keineswegs das dringlichste Problem ist. Für Indien und China sowie einige andere Schwellenländer bergen beispielsweise die hohen Rohstoff- und Lebensmittelpreise viel größeren sozialen und politischen Sprengstoff als die Frage, ob und wie hoch die Gehälter von Managern sind. Dasselbe gilt für die Frage, wie viel Eigenkapital eine Bank bereithalten muss: Für viele Staaten ist dies ein nachrangiges Problem im Vergleich zu der bitteren Armut in vielen Teilen der Welt.
Wie unbedeutend die Finanzkrise für den Rest der Welt ist, hat im Westen zunächst niemand gesehen. Stattdessen hieß es immer, die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers sei ein "Schock für die Welt" gewesen. Tatsächlich war es nur ein Schock für die Finanzzentren in New York, London, Frankfurt, Zürich und - mit Abstrichen - Tokio.
Die angeblich drohenden Folgen "für die Welt", so die Schlussfolgerung, könne man nicht mehr im traditionellen Rahmen der acht wichtigsten Industrieländer (G8), beraten. Stattdessen kaperten die Staats- und Regierungschefs im vergangenen November erstmals das bisher nur auf Finanzministerebene existente Format der G20. Bei dem Treffen in Washington im November waren viele der "neuen" Mitgliedsländer dieser vermeintlichen Weltregierung noch eher zurückhaltend. Sie lernten etwas über eine Krise, die sie gar nicht betraf. Auch beim G-20-Gipfel in London, im April dieses Jahres, hörten die Schwellenländer überwiegend noch interessiert zu.
Die Schwellenländer spielen ihre Macht voll aus
Mittlerweile aber haben sich vor allem die großen Nationen zusammengetan, allen voran China, Indien und Brasilien. "Sie haben sich abgesprochen, treten höchst professionell auf und machen uns das Leben nicht gerade einfach", berichtet ein deutscher Vertreter am Rande des Gipfels. Die aufstrebenden Mächte wollen sich nicht mehr mit der Rolle des Helfers bei der Bewältigung einer Krise zufriedengeben, die sie praktisch nichts angeht. Stattdessen fordern sie, völlig zu Recht und mit Erfolg, mehr Macht und Einfluss.
Nur auf Druck dieser Staaten ist die G20 mit dem Pittsburgh-Gipfel erstmals als führendes inoffizielles Gremium, das sich mit den Problemen der Welt beschäftigt, anerkannt. Der Welt, wohlgemerkt, nicht des Westens. Und nur auf Druck dieser Staaten ist es zu der längst überfälligen Reform des Internationalen Währungsfonds gekommen, der zufolge die Länder, die in den vergangen Jahren am stärksten gewachsen sind, und damit am meisten zum Wohlstand in der Welt beigetragen haben, ein stärkeres Gewicht erhalten.
"Wir hatten es diesmal mit einer Wand zu tun", heißt es aus deutschen Verhandlungskreisen. Die Ansage der Schwellenländer habe gelautet: "Entweder ihr macht große Konzessionen bei der Reform der internationalen Organisationen, oder wir lassen den Gipfel platzen."
Der Westen muss sich mit der neuen Situation arrangieren
Ein Wehrmutstropfen bleibt dennoch: Denn die großen Schwellenländer waren auch beim Klimaschutz zu keinerlei Konzessionen bereit. Die deutsche Delegation schätzt das Ergebnis intern sogar eher als Rückschritt ein. Nur Kanzlerin Angela Merkel wiegelt ab: "Hier geht es schließlich in erster Linie um Wirtschafts- und Finanzfragen. Die richtigen Klima-Verhandler sind noch nicht einmal vor Ort."
Doch ob es den westlichen Industrienationen passt oder nicht: Die G20 ist künftig das führende Gremium. Und die Vorstellung ist geradezu naiv, dass die G20 sich auch künftig auf finanz- und wirtschaftspolitische Fragen konzentriert. Sollte es, was niemand hofft, im Bereich der Sicherheitspolitik zu dringendem Gesprächsbedarf kommen, wird es keinen Weg zurück zur G8 geben.
Die G8 - immerhin seit den sechziger Jahren etabliert - wird im Umfeld der größeren Gruppe immer noch zusammentreten. Doch die Industrienationen werden an Einfluss verlieren. Für den Westen ist das eine gewöhnungsbedürftige Situation: Er wird zunehmend die Fähigkeit verlieren, seine Themen auf die Agenda zu setzen.
Für die Menschheit ist das nicht das Schlechteste. Alle müssen lernen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen: weg von Managergehältern - hin zu Armut, Hunger und Not im Rest der Welt.