Gas aus Russland EU sieht sich für Komplett-Lieferstopp gerüstet

Gaspipelines in der Ukraine: Drohung mit Lieferdrosselung
Foto: ALEXANDER ZOBIN/ AFPBrüssel - Wenige Tage vor dem Gasstreit-Treffen von russischen und ukrainischen Vertretern mit EU-Energiekommissar Günther Oettinger in Brüssel bereiten die Beteiligten offenbar schon einmal eine optimale Verhandlungsposition vor.
Während Russlands Präsident Wladimir Putin bei einem Staatsbesuch in Serbien mit einer Verringerung der Gaslieferungen nach Europa drohte, sollte die Ukraine sich etwas davon abzapfen, veröffentlichte die EU-Kommission die Ergebnisse ihres Gas-Stresstests . Ergebnis: Selbst bei einen Komplettstopp russischer Gaslieferungen in den kommenden sechs Monaten "müsste kein EU-Bürger frieren" - freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Länder Europas zusammenarbeiteten.
Am kommenden Dienstag treffen sich Delegierte Russlands und der Ukraine in Brüssel, um unter Vermittlung der EU eine Lösung in ihrem Gasstreit zu finden: Russland hatte wegen unbezahlter Rechnungen und eines Streits über den künftigen Preis im Juni den Gashahn für das Nachbarland zugedreht. Russland liefert allerdings weiter etwa die Hälfte des für Deutschland und andere westeuropäische Länder bestimmten Gases durch die Ukraine.
Auch für den Fall eines Scheiterns der Gespräche glaubt die EU-Kommission Europa gut gerüstet - selbst wenn die Lieferungen aus Russland dann nicht nur gedrosselt, sondern ganz eingestellt würden. Allerdings wäre Solidarität unter den EU-Staaten Voraussetzung dafür.
Estland wäre am stärksten betroffen
Wenn Russland den Gashahn zudrehte, würden Europa am Ende bis zu neun Milliarden Kubikmeter Gas fehlen, so die Analyse. Das entspricht etwa drei Prozent des Gasverbrauchs. Als Lösung empfiehlt Oettinger einen offenen europäischen Binnenmarkt für Gas: "Der höhere Preis schafft den besten Anreiz zur Versorgung, wo immer es in der Europäischen Union nötig ist." Solange die Staaten sich nicht abschotteten, würde steigende Nachfrage mit höheren Preisen dafür sorgen, dass das Gas dorthin fließt, wo es am dringendsten gebraucht wird.
Hinzu kommen alternative Energiequellen wie etwa Flüssiggas, das allerdings teuer importiert werden müsste. Die Auswirkungen höherer Preise auf Haushalte oder Wirtschaft hat die Brüsseler Behörde nicht untersucht.
Unabhängige Experten waren in mehreren Studien zu anderen Ergebnissen gekommen als die EU-Kommission. Laut einer Marktanalyse des Hamburger Forschungsbüros Energycomment etwa wäre eine flächendeckende Versorgung nur kurzfristig möglich, da Länder wie Griechenland nur über sehr kleine Gasspeicher verfügen und die Kapazitäten in Europas Pipelines nicht reichen, um genug Gas aus anderen Staaten nach Griechenland zu leiten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI). Der Branchenverband der europäischen Pipelinebetreiber (Entsog) hatte im Mai ebenfalls gewarnt, dass mehrere EU-Staaten einem russischen Lieferboykott nur kurz standhalten könnten.
Insbesondere die Industrie müsste demnach nicht nur höhere Preise fürchten. Sie sollte nämlich als Erstes ihren Gasverbrauch drosseln, falls es eng wird. Erst an letzter Stelle wären besonders verletzliche Verbraucher betroffen, die aber jeder EU-Staat anders definiert. Laut Kommission gehören in jedem Land Endverbraucher dazu, in einigen auch Krankenhäuser oder ähnliche Einrichtungen. Laut durchgespielten Szenarien müssten nur Verbraucher in Estland einen kalten Winter fürchten - und nur, falls die EU-Staaten ihre nationalen Märkte gegen den Rat aus Brüssel abschotten.
Derzeit sind die Gasspeicher in der EU zu etwa 90 Prozent gefüllt. Die Staaten sind verpflichtet, Vorräte für etwa 30 Tage für verwundbare Verbraucher vorzuhalten. Insgesamt beziehen die EU-Mitgliedsländer rund ein Drittel ihrer Energie aus Russland.