Thomas Fricke

Energiepreisbremsen und andere Hilfen Das gefährliche Gerede von der Vollkaskomentalität

Thomas Fricke
Eine Kolumne von Thomas Fricke
Ob Gas, Strom oder Corona: Wer die staatlichen Rettungsversuche für die Wirtschaft als Auswuchs deutscher Vollversorgung verspottet, hat nicht verstanden, in welcher Krise die Demokratie steckt.
Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner (v.l.n.r.) mit dem Abschlussbericht der Gaspreiskommission

Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner (v.l.n.r.) mit dem Abschlussbericht der Gaspreiskommission

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Kay Nietfeld / dpa

Sie werden es gemerkt haben: Es gibt gerade fast täglich neue Meldungen über Hilfen. Für Gasverbraucher wie für Stromkunden und für kriselnde Gasanbieter. Gegen Corona-Ausfälle sowieso. Und für Industriekunden. Dazu noch das neue Bürgergeld. Und ein 49-Euro-Ticket. Alles irgendwie vom Staat. Und subventioniert.

Schon beginnt es zu unken, das könne ja alles nicht sein – der Staat könne nicht alle Risiken auffangen. Das komme, war zu lesen, von der schlimmen deutschen Vollkaskomentalität. Wozu orthodoxe deutsche Ökonomen gewohnt spaßfeindlich noch anfügen, all die Hilfen könnten sowieso die Kosten von Corona und kriegsbedingter Energiekrise nicht wettmachen. Sprich: Da sei wahres Leid nötig.

Ist das so? Bei genauerem Hinsehen wirken solche Diagnosen nicht nur reichlich zynisch. Sie drohen auf fahrlässige Weise auch jene Art von Krise fehlzudeuten, in der die liberalen Demokratien gerade stecken – und die sich nach Rechtsruck in Italien, eskalierender britischer Dysfunktionalität und möglicherweise gerade wieder nahenden Desastern in den USA bald auch in Deutschland auswirken könnten.

Für die Hilfen gibt es zum einen ja nicht nur unmittelbar humane, sondern auch ernste wirtschaftliche Gründe, die am Ende auch eine humane Wirkung haben. Wenn die damalige Bundesregierung auf den Corona-Schock mit atemberaubenden Hilfspaketen reagiert hat, war das ja nicht der sorgsamen Berücksichtigung einer vermeintlichen deutschen Vollkaskomentalität geschuldet. Vielmehr hat sie damit auf die berechtigte Befürchtung reagiert, dass die angstgetrieben abrupte Unterbrechung des Geldausgebens eine dramatische Kettenreaktion hätte auslösen können – in der unzählige Firmen mangels Umsatz pleitegegangen wären und es massenhaft Arbeitslose gegeben hätte. Das hat eine Menge Leid vermieden.

Gleiches galt einst auch, als das Bankensystem 2008 kurz vor dem Kollaps stand. Oder eben jetzt, seit Wladimir Putin auf Kriegskurs gegangen ist – und dies für einen bis dahin undenkbaren Energieschock gesorgt hat. Was wiederum das orthodox-ökonomische Geunke ad absurdum führt, wonach Corona und der Krieg nun mal Wohlstand kosten – egal wie viel der Staat da auszugleichen versucht. Es macht – selbst wenn das stimmen würde – schon einen Unterschied, ob die Kosten jetzt inmitten einer ohnehin dramatisch labilen konjunkturellen Lage zu tragen sind, in der das Risiko einer Abwärtsspirale hoch ist – oder erst irgendwann, wenn die Situation wieder stabiler und Krieg wie Energiepreiskrise vorüber sind.

Wenn dank Hilfen für die Kaufkraft eine solche Kettenreaktion hier und jetzt vermieden wird, ist der Wohlstandsverlust deutlich geringer, als er es sonst wäre (wenn es jenseits vorübergehender Einschränkungen überhaupt so einen großen gibt). Nach dem unmittelbaren Angstschock wegen des Coronavirus im Frühjahr 2020 hat sich die deutsche Wirtschaft rapide wieder erholt – warum auch nicht? Das ist jetzt in der Energiekrise womöglich nicht ganz vergleichbar, weil es um Umbrüche bei der Energieversorgung geht. Auch hier gilt aber: Die Preise für Gas und Öl können schnell auch wieder sinken. Und die Hilfen tragen schon jetzt dazu bei, dass der ganz große Absturz ausbleibt. Schon weil die Deutschen einen Teil der Kaufkraftverluste über Neun-Euro-Tickets, Tankrabatte und Energiepauschalen erstattet bekommen haben – und noch bekommen.

Gefahr für die liberale Demokratie

Was das Gerede von der Vollkaskomentalität noch gefährlicher macht, ist noch etwas anderes: Es geht ja nicht darum, die üblichen Unwägbarkeiten des Lebens aufzufangen – und Risiken auszuschließen. Sondern darum, die Folgen einer Pandemie einzudämmen, wie es sie alle hundert Jahre gibt. Oder die eines Krieges, dessen indirekte Folgen die Menschen zu verarmen drohen. Diese Pein lässt sich als Anlass für hehren Verzicht intellektualisieren. Doch für die Menschen, die täglich über die Runden kommen müssen, klingt das irre. Und es droht ein tumbes Gefühl zu verstärken, das schon seit Jahren zum Verlust an Vertrauen in die liberalen Demokratien beiträgt – und zu allerlei Querdenkertum, Brexit-Irrsinn, Trumpismus und anderem geführt hat: jenes Gefühl, zwar für alles irgendwie verantwortlich zu sein, die eigenen Geschicke in Wahrheit aber nur sehr bedingt beeinflussen zu können. Zumindest in Krisenzeiten wie diesen.

Das galt schon zu Zeiten der Finanzkrise, in der plötzlich Banken mit viel Geld gerettet wurden – während Menschen wegen des Finanzwahns ihre Jobs verloren, die nicht mal wissen, was ein Derivat ist (was in Wahrheit auch keiner wissen müssen sollte, weil es für die Menschheit weitgehend verzichtbar ist).

Das gilt seither auch für die Menschen in jenen Landstrichen, die durch den Schock der Globalisierung wirtschaftlich niedergegangen sind – wie der Rust Belt in den USA, die ehemaligen Industrieregionen im Norden Englands oder manche Stadt im Osten Deutschlands. Und das gilt ebenso für das Phänomen stetig auseinandergedrifteter Lebensverhältnisse – wenn die einen mit eigener Leistung tapfer voranzukommen versuchen, ohne je reich werden zu können, während andere unfassbaren Reichtum erben oder das Glück hatten, ein Haus zu kaufen, bevor im Immobilienhype der Wert hochschoss.

Das Gleiche gilt für eine Coronakrise, die sich wirtschaftlich zum Desaster auszuweiten drohte – ohne dass jeder und jede Einzelne dagegen mit noch so viel Eifrigkeit sehr viel tun konnte. Oder eben für eine Zeit, in der es einen Krieg gibt, der über spekulativ getriebene Energiemärkte dazu beiträgt, dass bei uns alles bedrohlich teurer wird – und mancher an den Rand dessen gerät, was er tragen kann. Auch dagegen ist mit noch so viel Eifer nicht viel zu tun – bis darauf, hier und da etwas Energie zu sparen, womit sich das Desaster nur bestenfalls abmildern lässt.

Wie die Soziologen Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger in ihrem neuen Buch diagnostizieren, liegt in solchen Widersprüchen ein Hauptgrund für das Hoch der Querdenker und die Ausweitung des Gekränktseins in den vergangenen Jahren. Da gibt es zum einen den Anspruch, dass heute jeder sein Schicksal in der Hand hat und frei handeln soll – was zum anderen in dieser Welt (oft) gar nicht geht. Auch weil Regierungen in der Globalisierung und im marktliberalen Eifer über vieles die Kontrolle verloren haben.

Abschreckendes Vorbild Großbritannien

Es hat schon einen Grund, warum gerade Großbritannien und die USA derzeit die dramatischsten Krisen ihrer Demokratien erleben. Beide Länder wurden lange als Topvorbilder jenes Leitmotivs der Selbststeuerung von Märkten und Menschen gehandelt. In beiden sind die Folgen besonders verheerend – ob auseinandergedriftete Vermögen oder verlassene Regionen – und die Gesellschaften entsprechend gespalten. Was wiederum erklären könnte, warum die Krise bei uns bisher noch viel weniger dramatisch ist. Bisher. Dass die AfD in der Energiekrise wieder zulegt, könnte auch als Hinweis darauf zu deuten sein, dass auch in Deutschland ein gefühlter Kontrollverlust verstärkt wird – und dies durch die Kriegsfolgen zu einem gefährlichen Verlust von Vertrauen in die politischen Instanzen führt.

Wenn die Grunddiagnose stimmt, wirkt es grotesk fahrlässig, die noch so vielen Hilfen gegen Corona- oder Kriegsfolgen als Teil einer vermeintlichen deutschen Vollkaskomentalität zu verspotten. Dann ist jeder Euro es wert, uns zu ersparen, was Briten und Amerikaner schon jetzt erleben.

In Großbritannien hat die Überforderung der Menschen zu einem historisch fatalen Brexit geführt, dessen Absurdität sich jetzt in der Groteske der britischen Tories spiegelt.

In den USA hat Joe Biden in den vergangenen beiden Jahren versucht, den Amerikanern das Gefühl von Kontrolle zurückzubringen – ohne damit die Folgen von ein paar Jahrzehnten Erosion wettmachen zu können und die populistische Versuchung zu beheben. Was das heißt, wird sich womöglich nächsten Dienstag erahnen lassen – nach Auszählung der Stimmen bei den Kongresswahlen, den Midterms, auf halbem Weg zu den nächsten Präsidentschaftswahlen. Gut möglich, dass der Versuch des Behebens dann erst mal vorbei ist, weil Biden gar nicht mehr die dafür nötigen Mehrheiten hat. Ein Drama.

In großen Krisen- und Kriegszeiten gilt: Alles, was hilft, den Leuten das Gefühl der Ohnmacht zu nehmen, ist gut für die Leute. Für die Wirtschaft. Und für die Demokratie.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass der Ausbruch des Coronavirus im Jahr 2000 gewesen sei. Richtig ist aber 2020. Wir haben die Textstelle angepasst.

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