Debatte um 30-Stunden-Woche "Weltfremd", "falsch", "gefährlich"

Arbeitnehmer streiken für die 35-Stunden-Woche: Jetzt sollen weitere fünf Stunden runter
Foto: dapdHamburg/Berlin - Ideen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gibt es viele. Doch einfach weniger zu arbeiten - das hat schon lange niemand mehr gefordert. Ihre große Zeit erlebte die Idee der Arbeitszeitverkürzung in den achtziger Jahren mit der Debatte um die 35-Stunden-Woche, jetzt feiert sie ein Comeback. Ein Bündnis aus mehr als hundert Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Politikern verlangt in einem offenen Brief an die Vorstände ihrer Organisationen und Verbände, die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf 30 Stunden pro Woche zu verkürzen.
In dem Schreiben, das unter anderem auch Katja Kipping und Sahra Wagenknecht von der Linkspartei unterzeichnet haben, heißt es: "Ein Überangebot an den Arbeitsmärkten führt zu Lohnverfall." Die Krisenlasten dürften nicht länger der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit, den Arbeitslosen und den sozial Schwachen aufgebürdet werden.
Um das Problem zu lösen, will das Bündnis die "Ware Arbeitskraft verknappen". Die Idee: Wenn alle weniger arbeiten, können mehr Leute eingestellt werden. Von der Arbeitszeitverkürzung versprechen sich die Initiatoren auch eine deutliche Produktivitätssteigerung. Diese soll dann den Beschäftigten zufließen, um so den vollen Lohnausgleich zu sichern. "Damit bleiben die Lohnstückkosten konstant, den Unternehmen entstehen keine Wettbewerbsnachteile", sagte Heinz-Josef Bontrup, Wirtschaftsrechtler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen und Mitinitiator des Briefes, der "tageszeitung" ("taz").
"Ich sehe überhaupt keinen sinnvollen Grund"
Die IG Metall befindet sich bei diesem Thema anscheinend im Zwiespalt. Unter den Unterzeichnern des offenen Briefes finden sich zwar sieben Bevollmächtigte der Gewerkschaft, auf Nachfrage von SPIEGEL ONLINE wollte sich die IG Metall jedoch nicht zu den Forderungen äußern.
Die nämlich stoßen selbst bei Ökonomen auf Unverständnis, die eher dem gewerkschaftsnahen, nachfrageorientierten Lager zugeordnet werden: "Für Deutschland ist das sicher der falsche Weg", sagt Peter Bofinger, Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg. "Ich sehe überhaupt keinen sinnvollen Grund, das jetzt einzuführen."
Grundsätzlich sei das Konzept der Arbeitszeitverkürzung zwar eine gute Idee und habe sich auch bewährt. Maßnahmen wie Kurzarbeit beispielsweise hätten den starken Konjunkturrückgang 2009 abgefedert und zum Beschäftigungswunder beigetragen. "Wir haben dieses Instrument aber schon erfolgreich eingesetzt", sagt Bofinger. "Jetzt hat es seine Schuldigkeit getan." In Deutschland herrsche sowieso schon weitgehend Vollbeschäftigung, Probleme würden eher durch Fachkräftemangel und demografischen Wandel verursacht. Deswegen sei eine Arbeitszeitverkürzung sinnlos.
"Marxistische Vorstellung aus den Siebzigern"
Eine 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich hält auch Heiner Flassbeck, Direktor der Uno-Organisation für Welthandel und Entwicklung (Unctad), für unrealistisch: "Das wäre wie das Paradies mit den gebratenen Tauben." Der in dem offenen Brief beschriebene Mechanismus zum Lohnausgleich funktioniere nicht:
"Das Wort Lohnausgleich hat man erfunden, um Gewerkschaftsmitglieder milde zu stimmen", sagt Flassbeck. Damit der Ausgleich funktioniert, müsste nämlich die Arbeitsproduktivität der Angestellten im selben Maße wie ihr Lohn steigen, was bei einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche unmöglich wäre.
Wenn jedoch der Lohnausgleich nicht funktioniert, wäre eine Arbeitszeitverkürzung nichts anderes als eine Lohnsenkung. In Folge würde die Binnennachfrage sinken. "Das ist also der falsche Ansatz", sagt Flassbeck. "Ich hätte diesen Brief nicht unterschrieben."
Auch Karl Brenke, Konjunkturexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, kritisierte die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche: "Das ist absolut weltfremd." Die Forderung stamme aus den siebziger Jahren und sei von der marxistischen Vorstellung geprägt, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgegangen sei.
"Das kann ich absolut nicht teilen", sagt Brenke. Für Arbeitslosigkeit gebe es in Deutschland ganz andere Gründe. Beispielsweise seien viele zu schlecht ausgebildet, um einen Job zu finden. Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich hält Brenke deshalb sogar für gefährlich. Denn damit der Lohnausgleich funktionieren kann, muss wie beschrieben auch die Effizienz der Arbeitnehmer steigen. "Da bleiben die Niedrigqualifizierten als erstes auf der Strecke", sagt Brenke.
Und so könnte die Maßnahme besonders diejenigen benachteiligen, denen sie eigentlich helfen sollte.