
Globale Konjunktur Unruhe ist die neue Normalität


Einer von zahlreichen Unruheherden weltweit: Britanniens Premier Boris Johnson
Foto: AP / Alastair GrantSo viel Unsicherheit haben die Forscher noch nie gemessen, nicht nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, nicht während der Finanzkrise 2008, nicht während der Eurokrise zwischen 2010 und 2015.
Seit Monaten zeigt der globale Unsicherheitsindikator , berechnet von einem Team von US- Ökonomen, stark erhöhte Werte - mehr als das Dreifache des langfristigen Mittels. Der Indikator, so sieht es aus, warnt vor Peak Panic.
Das mag arg übertrieben erscheinen. Schließlich läuft die Weltwirtschaft noch halbwegs ordentlich. Die Beschäftigung in den reichen Ländern ist hoch, die Zahl der Arbeitslosen niedrig. Von Inflation ist wenig zu sehen. Die Börsen haben die abgelaufene Woche mit einem fetten Plus beendet.
Die gängigen Konjunkturindikatoren mögen zurückgegangen sein, aber sie zeigen längst keine welterschütternde Krise an. Und doch: Eine neue, beunruhigende Normalität ist eingekehrt.
Am Dienstag beginnt die Herbsttagung von Internationalem Währungsfonds (IWF) und Weltbank in Washington. Zu Beginn legt der IWF seine neue Prognose für die Weltwirtschaft vor. Es ist zu erwarten, dass die Fonds-Ökonomen ihre Vorhersagen abermals nach unten korrigieren. Bereits im Sommer sahen sie "politische Fehltritte und die damit verbundene Unsicherheit" als größten belastenden Faktor für die Wirtschaft an. Seither ist die Lage nicht gerade ruhiger geworden.
Jede Menge Unruheherde
In gut zwei Wochen läuft die Frist für den EU-Austritt Großbritanniens ab. Auch wenn jetzt auf den letzten Drücker wieder Brexit-Verhandlungen stattfinden, ist völlig unklar, wie es ab November weitergeht und ob ein neues Abkommen eine Mehrheit im britischen Unterhaus bekommt (achten Sie auf den entscheidenden EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag).

Institut für Journalistik, TU Dortmund
Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.
Im Handelskonflikt zwischen den USA und China mögen die Zeichen derzeit auf relative Entspannung stehen. Aber die bisherige Zolleskalation hat bereits beträchtliche Schäden angerichtet. Von einer nachhaltigen Lösung sind beide Seiten weit entfernt.
Wohin man schaut: unvorhergesehene Ereignisse, überraschende Wendungen. In Washington laufen die Anhörungen zu einem möglichen Amtsenthebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump. Der Konflikt um Vorladungen und die Vorlage von Beweismitteln zwischen Weißem Haus und Repräsentantenhaus trägt Züge einer Verfassungskrise.
In Hongkong steigen die Befürchtungen, die chinesische Armee könnte die Freiheitsbewegung mit Waffengewalt niederringen und ein Blutbad anrichten. Taiwans Präsidentin Tsai Ing-Wen warnte diese Woche vor einem Übergreifen des Konflikts mit Peking auf ihr Land.
Die Armee des Nato-Staates Türkei besetzt den kurdisch bewohnten Norden Syriens - und die Regierung in Ankara erwartet Beistand von ihren Partnern. Doch die denken gar nicht daran; stattdessen überzieht die Nato-Führungsmacht USA die Türkei mit harten Wirtschaftssanktionen. Am Persischen Golf spitzt sich der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran nach einem angeblichen Raketenangriff auf einen iranischen Tanker zu.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hätte jede einzelne dieser Nachrichten das Potenzial gehabt, die weltweiten Schlagzeilen für Tage oder Wochen zu bestimmen. Inzwischen passiert so vieles gleichzeitig, dass wir kaum noch hinterherkommen. Was ist hier eigentlich los?
Unsicherheit schafft Instabilität
Steigende Unsicherheit bedeutet nicht, dass alles immer schlimmer wird, sondern dass die Zukunft weniger ausrechenbar erscheint. Das wiederum hat höchst reale Folgen für Politik und Wirtschaft: Unsicherheit destabilisiert Institutionen, national und international. Und weil Planungsgrundlagen fehlen, halten sich Unternehmen und Konsumenten zurück; sie warten ab, fahren Investitionen und Konsumausgaben zurück.
Deshalb gehen Ökonomen davon aus, dass große allgemeine Verunsicherung schlecht ist für die wirtschaftliche Entwicklung. Entsprechend viel Aufmerksamkeit widmen sie inzwischen diesem Thema: 53-mal tauchen die Worte "unsicher" und "Unsicherheit" in der aktuellen Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute auf, in der Ausgabe vom Frühjahr waren es noch 35 Nennungen. Eine schlechtere Wirtschaftslage wiederum kann die Politik destabilisieren - Unsicherheit nährt weitere Unsicherheit.
Das erhöhte Unsicherheitsniveau hat eine tiefere Ursache: Wir erleben die Diffusion von politischer Macht - national und international. Traditionelle Herrschaftsstrukturen schwinden, neue Akteure tauchen auf. Das mag sympathisch wirken, wie eine große Emanzipationsbewegung. Aber zugleich wird die Welt instabiler und weniger steuerbar.
Die internationale Dimension: Kräftemessen der großen Mächte
Auf internationaler Ebene waren die USA jahrzehntelang die dominierende Macht. Sie schufen und stützten Institutionen - wie IWF, Weltbank, Nato und die Welthandelsorganisation WTO -, die eine internationale Ordnung stifteten. Natürlich, es war eine Ordnung nach dem Geschmack der Hegemonialmacht, aber immerhin waren die Regeln klar.
Andere westliche Länder halfen, diese Ordnung zu stützten: Auf die G7 (USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Japan) entfielen bei ihrer Gründung Mitte der Siebzigerjahre mehr als die Hälfte des globalen Sozialprodukts, des Welthandels und der Treibhausgasemissionen. Heute liegt der jeweilige Anteil nur noch bei rund einem Viertel. Damals führte der Westen dank konzentrierter Machtressourcen unangefochten. Die Sowjetunion konnte lediglich militärisch mithalten. China vermochte damals kaum seine Bevölkerung zu ernähren.
Ganz anders heute: Die USA sind immer noch die größte, aber bei Weitem nicht mehr die dominierende Handelsmacht. Entsprechend können sie nicht mehr die Regeln setzen, sondern verstricken sich in einen Dauerkonflikt mit der staatsdominierten Großvolkswirtschaft China, die die westlichen Regeln im Grunde nicht akzeptiert. Die EU ist mit sich selbst beschäftigt und weit davon entfernt, eine Großmacht zu sein.
In Asien fordert China die bisherige Schutzmacht USA heraus, baut seine militärische Präsenz im Südchinesischen Meer aus und bedroht seine Nachbarn, darunter Taiwan, die aus Pekinger Sicht abtrünnige Insel. Russland kann die Krim besetzen, und der Westen hat dem wenig entgegenzusetzen, kann die Annexion letztlich nur akzeptieren. Die Türkei fühlt sich stark genug, gegen den Protest der Nato-Partner in Syrien einzumarschieren, nicht zuletzt weil die Führung in Ankara hofft, dass Russland und China als mögliche Ersatzpartner bereitstehen.
Die Ordnung der Nachkriegszeit gilt nicht mehr. Neue Institutionen und Regeln haben sich noch nicht herausgebildet. Die Welt ist zurück in einem Kräftemessen der großen Mächte. Ein sicherer Rahmen für die Weltwirtschaft sieht anders aus.
Die nationale Dimension: Populismus und Bewegung
Auch auf nationaler Ebene sorgt die Diffusion der Macht für instabile Verhältnisse. Wo noch vor wenigen Jahren relativ hierarchische Strukturen herrschten, die den Prozess der politischen Willensbildung ordneten, ist nun ein erratisches Element eingekehrt. Volksparteien sind geschrumpft (was macht eigentlich die SPD?) oder verschwunden (wie die französischen Sozialisten).
Immer neue Bewegungen (von "Pegida" über die britische "Leave"-Kampagne, die französischen Gelbwesten bis zu "Exinction Rebellion") und Parteien (von "La République en marche" in Frankreich bis zur "Brexit Party") bewegen die politische Agenda. Organisiert über soziale Medien, treiben sie die Regierungen vor sich her.
Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der bevorstehenden Woche
Populistische Führungsfiguren machen sich die neuen Mechanismen zunutze und surfen auf den Wellen öffentlicher Erregung. Dass Donald Trump im Weißen Haus und Boris Johnson in Downing Street 10 sitzen, ist ein Resultat dieser Machtverschiebungen. Einmal an der Regierung, richten Populisten regelmäßig enorme Schäden an.
Eigentlich ist die Öffnung der politischen Räume eine tolle Sache. Anliegen, die früher keine Lobby hatten, lassen sich nun öffentlich artikulieren. Soziale Medien sind, so gesehen, ein machtvolles Vehikel, das der Demokratie zu einer neuen Blüte verhelfen könnte. Aber bislang fehlt es an Regeln und Institutionen, die politische Diskurse ordnen und in konstruktiven Bahnen halten könnten.
Es ist wie auf internationaler Ebene: Traditionelle Machtpositionen schwinden, neue Ordnungsprinzipien sind noch nicht in Sicht. Solange das so ist, wird Unsicherheit die neue Normalität bleiben.