Globalisierungkritikerin Hertz "Auch Krieg ist gut fürs Wirtschaftswachstum"

Koksfabrik im chinesischen Changzhi: "Wachstum durch umweltverschmutzende Industrie"
Foto: STRINGER SHANGHAI/ REUTERSSPIEGEL ONLINE: Frau Hertz, ständig liest man, wie stark die Wirtschaft gewachsen oder geschrumpft ist. Warum wird das Bruttoinlandsprodukt so wichtig genommen?
Hertz: Es ist leicht messbar und zeigt, wo ein Land im Vergleich zu anderen steht. Jedes Land misst deshalb mit dem Bruttoinlandsprodukt seinen wirtschaftlichen Erfolg. Eine Ausnahme bildet da nur Bhutan.
SPIEGEL ONLINE: In der Verfassung Bhutans steht, dass die Menschen nicht jedes Jahr reicher, sondern glücklicher werden sollen. Erreichen will das kleine asiatische Königreich das mit einer sozial gerechteren Gesellschaft und einem besseren Umweltschutz. Ist das ein besserer Ansatz?
Hertz: Definitiv. Das Bruttoinlandsprodukt bildet nur einen kleinen Teil des wirtschaftlichen Erfolgs eines Landes ab. Dabei werden einige wichtige Aspekte ignoriert. Nachhaltigkeit zum Beispiel. Es ist doch absurd, dass sich ein Land mit Wachstum brüsten kann, weil es viel umweltverschmutzende Industrie hat. Luftqualität, Gesundheit, der Fortschritt von Frauen, Kinderbetreuung und sozialer Zusammenhalt - all das sind wichtige Wirtschaftsfaktoren. Das Bruttoinlandsprodukt zeigt auch nicht, wie innovativ eine Volkswirtschaft ist, ob Produkte hergestellt werden, die langfristig erfolgreich sind, oder ob sie morgen out sind. Bisher gibt es in der Ökonomie aber noch keinen Ersatz für das Bruttoinlandsprodukt.
SPIEGEL ONLINE: Experten sagen, Wirtschaftswachstum sei wichtig, um Wohlstand zu sichern.
Hertz: Das hat sich bisher nicht bestätigt. Die Wirtschaft eines Landes kann sehr stark wachsen, und trotzdem ist ein Großteil der Bevölkerung arm. Russland ist ein Beispiel dafür. Das Land weist enorme Wachstumsraten auf, aber davon profitieren nur wenige. Seit über 25 Jahren wird die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten auf der Welt größer. Zwischen einer gerechteren Gesellschaft und Wirtschaftswachstum gibt es absolut keine Korrelation. Außerdem können die Gründe, warum ein Land wächst, ja durchaus negativ sein: Kriege sind zum Beispiel gut für das Wirtschaftswachstum. Oder Naturkatastrophen. Haiti wird hohe Wachstumsraten haben, weil nach dem Erdbeben alles wieder aufgebaut werden muss.
SPIEGEL ONLINE: Der französische Präsident Nicolas Sarkozy will Faktoren wie Glück in das Bruttoinlandsprodukt miteinbeziehen.
Hertz: Ja, das ist ein absolut fortschrittlicher Ansatz. Immer mehr Menschen halten das Bruttoinlandsprodukt für überholt, weil es nur den Output misst.
SPIEGEL ONLINE: Wie sollte denn ein Gegenmodell konkret aussehen?
Hertz: Man müsste eine Art Korb erstellen mit den verschiedenen Faktoren, also Gerechtigkeit, Umweltschutz, Gesundheit der Bevölkerung. Die müsste man dann unterschiedlich gewichten.
SPIEGEL ONLINE: Und wie viel Gewicht würden Sie dann noch dem Bruttoinlandsprodukt geben?
Hertz: Das Bruttoinlandsprodukt hat schon eine gewisse Aussagekraft und sollte definitiv Teil des Korbs bleiben. Wir müssen uns jedoch entscheiden, ob wir Erfolg allein am absoluten ökonomischen Wohlstand eines Landes messen oder ob wir auch berücksichtigen, wie gleichmäßig der Wohlstand verteilt ist und wie nachhaltig er ist.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie wirklich, dass die führenden Industrienationen vom Bruttoinlandsprodukt als Vergleichsgröße abrücken?
Hertz: Das Bruttoinlandsprodukt ist lange Zeit ein übliches Messinstrument für Erfolg gewesen ist. Aber wenn Politiker die besten Entscheidungen treffen wollen, dann müssen sie auch die richtigen Dinge messen.
SPIEGEL ONLINE: Der Klimagipfel in Kopenhagen ist doch hauptsächlich daran gescheitert, dass Länder wie China nicht auf Wachstum verzichten wollen.
Hertz: Wenn einige Länder mit gutem Beispiel vorangehen, werden andere Nationen nachziehen. Aber Sie haben Recht, Länder wie China sind absolut fokussiert auf Wachstum. Für sie ist es schon ein Misserfolg, wenn sie nur sieben oder acht Prozent wachsen. Aber das heißt doch nicht, dass sich alle anderen auch nur auf Wachstum fixieren sollten.
SPIEGEL ONLINE: Aber außer Bhutan tun das doch alle. Und bei Sarkozy ist es bisher auch nur bei schönen Worten geblieben.
Hertz: Ich bin überzeugt davon, dass wir im Kapitalismus gerade an einem Wendepunkt stehen. Die Finanzkrise konnte nur entstehen, weil die Menschen zu sehr auf das Wachstum geguckt haben, ohne zu fragen, wo dieses Wachstum überhaupt herkommt und zu welchem Preis. Die Krise war ein Weckruf für viele Menschen, die einfach die Regeln des alten Systems akzeptiert haben. Politiker, Akademiker, Ökonomen, aber auch der Mann auf der Straße fragen sich jetzt, ob die alten Regeln eigentlich gerecht und richtig waren.
SPIEGEL ONLINE: Sie nennen das die Abkehr vom Gucci-Kapitalismus hin zum kooperativen Kapitalismus.
Hertz: Im Gucci-Kapitalismus glaubte man, die Märkte wären völlig rational, und man könnte sich auf sie verlassen. Ökonomen kreierten Modelle mit fast cartoonähnlichen Annahmen über Menschen als superrationale Profitmaximierer. Sie haben versucht, die komplexe Welt zu beschreiben, ohne auf die Beziehungen von Politik, Wirtschaft und Geschichte einzugehen. Sie haben das alles ignoriert. Aber jetzt fangen genau diese Ökonomen an, das alles zu hinterfragen. Es ist bezeichnend, dass der letzte Wirtschaftsnobelpreis nicht an einen traditionellen Ökonomen ging, sondern an Elinor Ostrom, die fundamentale Annahmen in der klassischen Ökonomie hinterfragt hat.
SPIEGEL ONLINE: Wie könnten Unternehmen im kooperativen Kapitalismus aussehen?
Hertz: Es gibt bereits Unternehmen, die ein kooperatives Geschäftsmodell haben. Start-ups im Silicon Valley zum Beispiel oder Anbieter freier Software, die öffentlich zugänglich ist. Diese Branchen sind nicht vom Gucci-Kapitalismus getrieben. Sie arbeiten nach Prinzipien, die ausdrücklich Zusammenarbeit, Partnerschaft, Networking, Beziehungen und soziale Stärke hochhalten. Dinge, die bisher nicht unbedingt als ökonomisch wertvoll betrachtet wurden. Wie man gesehen hat, kann das sehr viel erfolgreicher sein als die alten Modelle.
SPIEGEL ONLINE: Vor etwa einem Jahr haben Sie einen Essay über den Wandel hin zum kooperativen Kapitalismus geschrieben. Seitdem hat sich nichts verändert. Die Banker stecken sich schon wieder gigantische Boni in die Taschen. Das ist doch Gucci-Kapitalismus pur!
Hertz: Im Moment entstehen tatsächlich zwei Parallelwelten. In der einen leben die Banker mit ihren Vorstellungen vom Kapitalismus. Viele von ihnen verstehen die Befürchtungen der gewöhnlichen Menschen einfach nicht. In der anderen Welt leben alle anderen. Man kann aber nicht sagen, es hätte sich nichts verändert. Es gab viele Erneuerungen im Denken und Handeln.
SPIEGEL ONLINE: Haben es die Politiker versäumt einzuschreiten?
Hertz: Die Politik ist leider sehr abhängig von der Wirtschaft. In den USA unterstützt die Wall Street die großen Parteien. In Großbritannien haben wir bald Wahlen. Die Labour-Partei wird wahrscheinlich verlieren, und es gibt viele Jobs in Banken, die die Ex-Minister haben wollen, wenn sie die Politik verlassen. Außerdem macht der Finanzsektor in Großbritannien ein Großteil des Bruttoinlandsprodukts aus.
SPIEGEL ONLINE: Dann ist es jetzt also doch zu spät?
Hertz: Nein. Es ist nicht zu spät für Veränderungen. Großbritannien hat bereits reagiert und besteuert Bankerboni mit 50 Prozent. Die Niederlande haben die Bankergehälter begrenzt. Es gibt internationale Treffen, auf denen diskutiert wird, wie die Risiken im Finanzsektor reduziert werden können. Es wird mehr und mehr akzeptiert, wenn Politiker in die Märkte eingreifen, was früher überhaupt nicht der Fall war. Die Krise hat Löcher im alten System aufgedeckt. Länder wie Brasilien, Indien oder China haben sich diese Ideologie nie zu eigen gemacht, und diese Länder gewinnen zunehmend an internationalem Gewicht. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die Zukunft so aussehen wird wie die Vergangenheit.
SPIEGEL ONLINE: Und wie wird die Zukunft aussehen?
Hertz: Wir betreten eine Ära der Komplexität, der Vielfältigkeit und der Zusammenarbeit. In Zukunft werden Dinge wie ganzheitliches Denken und kritische Analyse essentiell sein. Außerdem werden Netzwerke eine große Bedeutung bekommen. Wir müssen flexibel genug sein, dass wir diese Veränderungen bewältigen können.
Das Interview führte Friederike Ott
Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version des Textes war der Name der Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom falsch geschrieben, zudem wurde ihr das falsche Geschlecht zugeordnet. Ursprünglich hieß es "Es ist bezeichnend, dass der letzte Wirtschaftsnobelpreis nicht an einen traditionellen Ökonomen ging, sondern an Elinor Osram, der fundamentale Annahmen in der klassischen Ökonomie hinterfragt hat." Korrekt muss es - wie oben angegeben - heißen: "Es ist bezeichnend, dass der letzte Wirtschaftsnobelpreis nicht an einen traditionellen Ökonomen ging, sondern an Elinor Ostrom, die fundamentale Annahmen in der klassischen Ökonomie hinterfragt hat." Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.