Ende der Hilfsprogramme Unsere Lehren aus der Griechenlandkrise

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Früher oder später wird Griechenlands Misere ein Fall für die Geschichtsbücher sein - die Frage ist nur, wann genau. Am 20. August endete offiziell das dritte Kreditprogramm, ein viertes soll es nicht geben. In Athen und Brüssel hat man die Krise für beendet erklärt.
Der Wunsch nach einem Schlussstrich ist verständlich. Mehr als acht Jahre ist es nun her, dass der damalige Premierminister Georgios Papandreou auf der Insel Kastellorizo vor die Fernsehkameras trat und einen Antrag auf internationale Finanzhilfen ankündigte. Die bekam das Land, die Kredite haben inzwischen ein Volumen von knapp 274 Milliarden Euro erreicht.
Doch der Preis war hoch. Griechenland musste umfassenden Reformen und harten Einsparungen zustimmen. Der Widerstand dagegen fegte mehrere Regierungen hinweg und brachte das Linksbündnis Syriza an die Macht - eine neue politische Kraft, die mit Alexis Tsipras auch den regierenden Ministerpräsidenten stellt. Tsipras versuchte 2015 den Befreiungsschlag und setzte überraschend eine Abstimmung über die verhasste Sparpolitik an.
Das Nein der Bevölkerung wurde am Ende ignoriert. Der rebellische Finanzminister Yanis Varoufakis trat ab, Tsipras stimmte einem dritten Kreditprogramm zu. Zuvor hatte der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble dem Land mit dem Euro-Aus gedroht, auf das die Griechen in langen Schlangen vor den Geldautomaten bereits einen Vorgeschmack bekamen. Für den europäischen Zusammenhalt waren es keine guten Zeiten.
Nun also soll das bislang dramatischste Kapitel der noch jungen Euro-Geschichte beendet werden. Glauben Verantwortliche von früher und heute, dass dies gelingt? Welche Lehren ziehen sie aus der Krise? Und was denken griechische Bürger, die den wirtschaftlichen Absturz oft am eigenen Leib erlebten? Der SPIEGEL hat dazu in den vergangenen Monaten zahlreiche Beteiligte und Betroffene der Krise befragt (Klicken Sie sich durch die Bilderstrecke, um die einzelnen Interviews zu lesen).
Was die wenigsten Befragten glauben: Dass Griechenland einfach in die Normalität zurückkehrt. "Leider ist die Krise nicht vorbei", sagt der frühere Vizeregierungschef Evangelos Venizelos. Zur immer noch dramatischen Wirtschaftslage kommt die Gewissheit, dass Griechenland nun über Jahrzehnte seine Kredite tilgen und zugleich strikte Sparvorgaben erfüllen muss.
Statt des Parlaments entscheide über den griechischen Haushalt künftig "eine Art supranationaler Aufsichtsrat", sagt der CSU-Politiker Peter Gauweiler, der gegen die Finanzhilfen mehrfach vors Bundesverfassungsgericht zog.
Die Aussichten sind also nicht gerade rosig. Doch werden die Griechenlandprogramme deshalb als "ungeheuerliches Negativbeispiel" in die Geschichte eingehen, wie Ex-Finanzminister Varoufakis vorhersagt? Oder waren sie doch ein unvermeidbares Übel?
Ohne Zweifel gab es ja massive Missstände im Land. Der griechische Staat ist bis heute ineffizient, aufgebläht durch eine Vetternwirtschaft, die in jahrzehntelanger Zweiparteienherrschaft gedeihen konnte. Bürokratiepossen wie das Amt zur Überwachung eines ausgetrockneten Sees oder Blindenhilfen für hunderte Griechen mit voller Sehkraft empörten nicht nur deutsche Boulevardmedien. Auch der Skandal um Griechenlands frisierte Haushaltszahlen wirft bis heute Fragen auf. Ausgerechnet jener Statistikchef, der erstmals realistische Daten vorlegte, wurde dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Die ersten werden die letzten sein
Griechenland war schlicht nicht reif für die Eurozone - das glauben auch viele Griechen. Man sei damals "einem Club von Erwachsenen beigetreten, während wir noch in unserer politischen und ökonomischen Pubertät steckten", sagt die Doktorandin Zoe-Charis Belenioti. Zwar mussten später auch andere Euroländer wie Portugal oder Zypern um Kreditprogramme bitten, doch die haben sie längst abgeschlossen. Griechenland dagegen stand am Anfang der Eurokrise - und steht nun an ihrem mutmaßlichen Ende. Die ersten werden auch die letzten sein.
Dass gerade Griechenland zum Präzedenzfall wurde, ist Teil der vielzitierten Tragödie des Landes. "Für diese schlimmste Krise seit der Großen Depression gab es kein Drehbuch", sagt Klaus Regling, Chef des Europäischen Rettungsfonds ESM. Die Geldgeber waren sich deshalb zunehmend uneins, wie viel sie dem Land abverlangen konnten. Zudem wurden die meisten Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen: Von der sogenannten Troika aus Technokraten und der nicht direkt gewählten Euro-Gruppe der Finanzminister.
"Aus demokratischer Sicht war das skandalös", sagt EU-Währungskommissar Pierre Moscovici, der als französischer Finanzminister mit am Tisch saß. "Es wäre arrogant zu sagen, wir hätten alles richtig gemacht", so Regling. Und auch Ludger Schuknecht, der als Chefökonom im Bundesfinanzministerium ein Vordenker von Schäubles Sparpolitik war, räumt ein, es seien "auch Fehler gemacht" worden. Alle drei Beteiligten halten die politische Antwort auf die Krise aber prinzipiell für richtig.
Das sieht man in der griechischen Regierung anders. "Die sogenannten Therapien waren weitgehend falsch", sagt die amtierende Arbeitsministerin Efi Achtsioglou. Zu Beginn der Programme sei es vor allem darum gegangen, dass "internationale Großbanken ihre Schulden auf den Staat abwälzen" konnten. Dennoch bekennt sich Achtsioglou zu den Verpflichtungen des Landes. "Wir erfüllen unsere finanziellen Ziele".
Die wahre Bewährungsprobe kommt noch
Wenn es in der Griechenlandkrise auch so etwas wie eine Positivüberraschung gibt, dann vielleicht diese: Nach jahrelangen, zähen Kämpfen zwischen Gläubigern und verschiedenen griechischen Regierungen setzt heute ausgerechnet die von Tsipras geführte Links-Rechts-Koalition die Vereinbarungen weitgehend geräuschlos um. Das sei nur scheinbar ein Paradox, sagt Vize-Wirtschaftsminister Stergios Pitsiorlas. Schließlich stamme die Regierung "aus einem Teil des politischen Spektrums, der den kollabierten Teil des Systems über Jahrzehnte bekämpft hat".
Die wahre Bewährungsprobe für Tsipras wird noch kommen: Jetzt muss sich zeigen, ob Griechenland nun tatsächlich wieder frei ist, wie Tsipras es seinen Wählern immer wieder versprochen hat. Und was die Regierung mit dieser Freiheit anfängt.
Evi-Maria Anagnostopoulou will genau hinschauen, was nun passiert. "Entscheidend wird sein, ob es neue Jobs gibt", sagt die frühere Call-Center-Mitarbeiterin, die seit vier Jahren arbeitslos ist. Wenn das gelinge, werde sie gerne zustimmen, dass Griechenland ein neues Kapitel aufgeschlagen habe. "Andernfalls wird sich nichts geändert haben."