Dauerstreik Gewerkschaften verschärfen Griechenlands Krise

Der Strom fällt aus, Müllberge wachsen, Züge fahren nicht: Griechenlands Gewerkschaften streiken nonstop, mobilisieren Hunderttausende zum Anti-Spar-Protest. Kompromisse gelten den Arbeitervertretern als Niederlage. Die fehlende Verhandlungskultur wird zum ernsten ökonomischen Problem.
Gewerkschaftsdemonstration in Athen: "Das bedeutet Krieg"

Gewerkschaftsdemonstration in Athen: "Das bedeutet Krieg"

Foto: LOUISA GOULIAMAKI/ AFP

Streiks und Demonstrationen sind die Griechen gewohnt. Doch mittlerweile brechen die Proteste alle Rekorde. Ganze Internetseiten sind der Frage gewidmet, wo gerade mal wieder gestreikt wird. Zuletzt meldeten sie unter anderem Arbeitskämpfe bei der staatlichen Lotto-Gesellschaft, der Athener Metro sowie der griechischen Eisenbahn.

Griechenlands Gewerkschaftsführer sehen sich als letztes Bollwerk gegen immer neue Einschnitte, mit denen die Troika der internationalen Geldgeber das Land in die Knie zwinge wolle. Kritiker hingegen halten die Gewerkschaften für eine der wichtigsten Ursachen der Krise. Sie hätten dabei geholfen, einen aufgeblähten und ineffizienten öffentlichen Sektor zu schaffen, den sie nun gegen jeden Reformversuch verteidigten.

Sicher ist: Von ihren deutschen Pendants trennen die griechischen Gewerkschaften Welten. In Deutschland einigen sich Arbeitgeber und -nehmer trotz aller Konflikte meist auf dem Verhandlungsweg. Von solcher Kompromissfähigkeit ist in Griechenland wenig zu spüren. So schrecken Gewerkschaftsvertreter bei Elektrizitätsunternehmen nicht davor zurück, ihre Forderungen mit absichtlichen Stromausfällen zu unterstreichen, Mitarbeiter der Stadtreinigung lassen in Großstädten Müllberge wachsen und Kommunalgewerkschafter verhinderten, dass Namenslisten für geplante Entlassungen an die Regierung geschickt wurden.

Während Arbeitnehmer in der griechischen Privatwirtschaft oft wenige Rechte haben, verteidigt der Öffentliche Dienst seine Privilegien mit aller Macht. Nun will die Regierung auf Druck der internationalen Geldgeber die Tätigkeit von 27.000 öffentlich Bediensteten überprüfen und ihre Stellen unter Umständen streichen. "Das bedeutet Krieg, wir werden es nicht zulassen", sagt Themis Balasopoulos, Chef der Kommunalarbeitergewerkschaft POE-OTA. Der Präsident der Beamten-Gewerkschaft Adedy, Kostas Tsikrikas, gibt sich genauso kompromisslos: "Wir verlangen, dass es keine einzige Entlassung im Öffentlichen Dienst gibt", sagt er SPIEGEL ONLINE.

Mit ihrer Extremposition können sich die Gewerkschafter auf die griechische Verfassung berufen. Laut Artikel 103 sind Jobs im öffentlichen Sektor "dauerhaft". Die Garantie wurde 1911 geschaffen, nachdem die Regierungen zuvor stets die Beamten ihrer Vorgänger gefeuert hatten. In Athen gibt es bis heute einen "Platz des Jammerns", wo diese Entlassenen früher protestierten. Mittlerweile ist das Kündigungstabu wie viele Privilegien zur Selbstverständlichkeit geworden. Der griechische Innenminister Antonis Manitakis von der gemäßigten Linken schrieb noch 2010, er könne sich nicht vorstellen, dass je eine griechische Regierung daran rühren werde.

Selbst bei Korruption ist eine Entlassung praktisch ausgeschlossen

Unter bestimmten Umständen erlaubt die Verfassung zwar auch im Öffentlichen Dienst Entlassungen, etwa durch gerichtliche Entscheidungen. Doch bislang wurden juristische Streitfragen häufig über fünfköpfige Disziplinarkomitees geklärt, in denen zwei Arbeitnehmervertreter saßen. Und diese blockierten Entlassungen selbst in solchen Fällen, die ziemlich eindeutig nach Korruption rochen. "Disziplinarkomitees im Öffentlichen Dienst funktionieren als Waschmaschinen", sagt Griechenlands oberster Korruptionswächter, Leandros Rakintzis.

So wurde ein Mitarbeiter der Steuerbehörde laut Rakintzis von einem regulären Gericht wegen Unterschlagung und Fälschung zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Das Disziplinarkomitee habe daraus eine sechsmonatige Bewährungsstrafe gemacht, nach welcher der Mann seine Arbeit wieder aufnehmen konnte.

Künftig sollen die Komitees nach einer Gesetzesänderung allein mit Richtern besetzt werden, doch den Gewerkschaften bleiben andere Machtmittel. So kritisiert der frühere liberale Finanzminister Stefanos Manos, dass es die in Deutschland üblichen Urabstimmungen nicht gibt: Gewerkschaftsführer können Streiks ausrufen, ohne die Mitglieder zu befragen. Entlassungen wurden in der Vergangenheit zum Teil schlicht dadurch verhindert, dass Gewerkschafter die Treffen der zuständigen Gremien mit Sit-ins verhinderten. "Sie haben nie die Realität akzeptiert", sagt Manos, "sie verwenden Erpressermethoden, um sich durchzusetzen."

Auch die Gewerkschafter werfen der Gegenseite unfaire Methoden vor. So bezeichnet es Tsikrikas als "Mythos", dass Griechenland mehr Staatsdiener habe als andere Länder. "Öffentlich Bedienstete machen zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Griechenland aus, wohingegen es in anderen europäischen Ländern mehr als 15 Prozent sind."

Die EU und die Industrieländerorgansiation OECD sahen den Anteil des öffentlichen Sektors in Griechenland noch vor wenigen Jahren zwischen 17 und mehr als 20 Prozent. Damit lag das Land zwar über dem internationalen Durchschnitt, aber noch deutlich hinter Ländern wie Frankreich oder Kanada. Infolge der jüngsten Entlassungswellen könnte der Anteil tatsächlich zurückgegangen sein, sagt Claude Giorno, Griechenland-Experte bei der OECD. "Das Problem ist aber weniger die Größe als die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen." Zudem sind die Gehälter der griechischen Beamten in der Vergangenheit viel stärker gestiegen als im europäischen Durchschnitt.

Auch die Elite trägt massive Schuld

Ganz ohne Selbstkritik sind die Arbeitnehmervertreter nicht. Man hätte vielleicht rückblickend "eine andere Haltung einnehmen können", sagt Tsikrikas. Doch schließlich hätten die Gewerkschaften nicht die Gesetze gemacht und sich mit ihren Forderungen nur dem Zeitgeist angepasst.

Die Verantwortung der griechischen Elite für die Misere des Landes ist in der Tat immens, das hat gerade erst wieder die Affäre um Manipulationen an der sogenannten Lagarde-Liste mit prominenten Steuerflüchtlingen gezeigt. Der Ökonom Theodore Pelagidis sieht die Gewerkschaften denn auch nur als Teil eines größeren Problems. In seinem neuen Buch spricht er von "griechischen Wikingern" - verschiedenen Interessengruppen, welche die Pfründe des Landes unter sich aufgeteilt hätten. "Öffentliche Unternehmen haben die Steuerzahler und den Staat ausgeplündert, in einer Verschwörung der Interessen von Parteien, Gewerkschaftsführern und Firmen."

Nun aber, da das alte System kollabiert ist, fehlt zwischen Arbeitgebern und -nehmern jegliches Vertrauen. "In Ländern wie Deutschland existiert eine andere Verhandlungskultur", sagt Gewerkschafter Tsikrikas. "In Griechenland gibt es überhaupt keinen Dialog mehr." Der Liberale Manos stimmt ihm ausnahmsweise zu: "Niemand vertraut niemandem. Gehaltsverhandlungen müssen auf Vertrauen aufbauen. Doch wenn hier ein gemäßigter Gewerkschaftsvertreter auftaucht, wird er sofort verdächtigt, geheime Absprachen mit Regierung und Arbeitgebern zu treffen."

Übersetzung aus dem Englischen und Mitarbeit: David Böcking
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