Wahl in Großbritannien Brexit, Lügen und Moneten

London vor der Wahl: Das Land hangelt sich am Rand einer Rezession entlang
Foto: Andy Rain/ EPA-EFEGroßbritannien steht am Scheideweg: Bei den Unterhauswahlen am Donnerstag entscheiden die Briten nicht nur, wer in den kommenden Jahren in der Downing Street wohnen und das Land als Premier führen wird. Sie entscheiden auch über den Brexit-Kurs des Landes. Zur Wahl stehen außerdem zwei wirtschaftspolitische Konzepte für das Land, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Wie sehr diese Entscheidung drängt, verdeutlichten Meldungen vom Dienstag: Laut Zahlen der staatlichen Statistikbehörde stagnierte die britische Wirtschaft zwischen August und Oktober. Der Bausektor und die Industrieproduktion schrumpften in dieser Zeit sogar. Das Land hangelt sich am Rand einer Rezession entlang. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Die Brexit-Untersicherheit spielt dabei aber mit Sicherheit eine Rolle.
Dieses Thema hat sich Amtsinhaber Boris Johnson auf die Fahnen geschrieben. Die Kernbotschaft seiner Kampagne lautet: "Get Brexit Done" - Setzen wir den Brexit um. Seit Wochen fährt der Premier mit der charakteristischen blonden Wuschelmähne durch das Land und erzählt Wählerinnen und Wählern, man müsse seinen Brexit-Deal (eigentlich nur eine Abwandlung von Theresa Mays Brexit-Abkommen) nur noch "in den Ofen schieben". Und bumm, schon ist der Brexit fertig. Das Land könne die EU Ende Januar verlassen und sich endlich wieder den zahlreichen anderen drängenden Fragen zuwenden.
Für die Wirtschaft wäre das ein Segen. Doch es gibt ein Problem: Johnsons Botschaft ist leider unwahr. Denn die eigentlichen Brexit-Verhandlungen haben noch nicht einmal begonnen - und zwar jene, bei denen es um die zukünftigen Beziehungen des Landes zur EU gehen wird. Und die könnten Jahre dauern. Die Übergangszeit, die nach dem Brexit einsetzt und während der sich zunächst einmal nicht viel ändern würde, läuft Ende 2020 aus. Gibt es bis dahin kein umfassendes Abkommen, dann droht wieder ein ungeordneter, chaotischer Brexit. Johnsons Wahlsieg würde für die Wirtschaft also kein Ende der lähmenden Unsicherheit bedeuten. Im Gegenteil: Die nächste harte Deadline würde sich anbahnen, Ende 2020.
Tories: Mehr Beschäftigte im öffentlichen Dienst, keine Steuererhöhungen

Boris Johnson: Seine Botschaften sind leider unwahr
Foto: Stefan Rousseau/PA Wire/dpaBei den öffentlichen Ausgaben hat Johnson eine Abkehr vom drastischen Austeritätskurs seiner Vorgänger angekündigt, der vor allem ärmere Briten schwer getroffen hat. Nach neun Jahren, in denen konservativ geführte Regierungen die öffentlichen Dienste in Grund und Boden gespart haben, soll wieder Geld fließen: 20.000 neue Polizisten sollen eingestellt werden, es soll in wenigen Jahren 50.000 mehr Krankenschwestern und -Pfleger geben als heute, und 40 neue Krankenhäuser sollen gebaut werden.
Schaut man genau hin, lösen sich jedoch auch diese Versprechen zumindest teilweise in Luft auf. Ein großer Teil der "neuen" Posten bei der Polizei soll Berichten zufolge geschaffen werden, indem bestehende Polizisten in neue Stellen versetzt werden. Zudem haben konservativ geführte Regierungen seit 2010 in etwa diese Zahl an Polizisten entlassen.
Auch 19.000 der 50.000 Krankenschwestern sollen lediglich dazu angehalten werden, ihren Job nicht zu verlassen. Wie Johnson das bewerkstelligen möchte, ist unklar. Und von den 40 angeblich neuen Krankenhäusern fehlt jede Spur. Die Tories mussten kürzlich einräumen, dass bis 2025 allenfalls sechs Krankenhäuser "modernisiert" werden sollen.
Ein umfassendes Ende der stark auf Einsparungen und Steuersenkungen fokussierten Tory-Politik wäre mit Johnson daher kaum in Sicht. Zumal Johnson für die geplanten Änderungen weniger als drei Milliarden Pfund an zusätzlichen Ausgaben bereitstellen möchte.
Steuererhöhungen soll es keine geben. Seine derzeitige Regierung ist zudem voll von Thatcher-Verehrern und Brexit-Hardlinern, die nur darauf warten, dass Land nach dem EU-Austritt in eine Steueroase zu verwandeln - mit Dumping-Steuersätzen, Zollfreigebieten und Freihandelsabkommen mit Ländern wie China. Ein solches Freihandelsabkommen würde dem angeschlagenen produzierenden Gewerbe vermutlich den Todesstoß versetzen.
Labour: Mehr Geld für fast alle

Labour-Chef Corbyn: Für die britische Wirtschaft wäre sein Wahlsieg ein Segen
Foto: LYNNE CAMERON/EPA-EFE/REXDemgegenüber steht eine Labour-Partei, die unter Parteichef Jeremy Corbyn weit nach links gerückt ist. Und das spiegelt sich im Wahlprogramm wider: Das Budget für das Gesundheitssystem soll um rund sieben Milliarden Pfund im Jahr erhöht werden, die Privatisierung von Teilen des Gesundheitsdiensts NHS soll zurückgenommen werden.
Die Bildungsausgaben sollen erhöht werden. Alle Über-16-Jährigen sollen einen garantierten Mindestlohn von zehn Pfund pro Stunde bekommen, das Rentenalter soll bei 66 Jahren eingefroren werden.
Großbritanniens Energieproduktion soll bis in die 2030er-Jahre CO2-neutral werden. 100.000 neue Sozialwohnungen pro Jahr sollen dabei helfen, die Engpässe auf dem Wohnungsmarkt zu bewältigen. Die Strom- und Wasseranbieter und der Zugverkehr sollen wieder verstaatlicht werden. Alle Haushalte und Unternehmen sollen einen kostenlosen Breitband-Internetanschluss bekommen.
Finanziert werden soll das alles durch Steuererhöhungen für Besserverdiener und Unternehmen.
Verstaatlichungen hier, kostenlose Internetangebote dort - viele konservative Politiker und Tory-freundliche Zeitungen verschreien die Pläne seit Wochen als linkspopulistischen Wahnsinn. Im Kern würden Labours Pläne aber vor allem bewirken, dass Großbritannien - wirtschaftspolitisch betrachtet - europäischer werden würde. Denn mit der geplanten Erhöhung der Körperschaftsteuer von derzeit sehr niedrigen 19 auf 26 Prozent würden britische Unternehmen noch immer weniger Steuern zahlen als Konkurrenten in Deutschland und Frankreich.
In der Praxis müssten allerdings beide Parteien vermutlich noch einmal nachbessern, wenn sie die Wahlen gewinnen. Das unabhängige Institute for Fiscal Studies (IFS) übt an den Plänen beider Parteien Kritik. Johnsons Vorhaben würden sich wohl kaum ohne Steuererhöhungen oder eine höhere Neuverschuldung bewerkstelligen lassen, urteilt das Institut.
Scharfe Kritik
Und auch Labours Pläne, die erhöhten Ausgaben über Steuererhöhungen zu finanzieren, seien wohl zu optimistisch. Das IFS räumt allerdings ein, dass es der Umfang der geplanten Labour-Maßnahmen schwierig mache, verlässliche Einschätzungen abzugeben.
Die wohl wichtigste wirtschaftspolitische Frage dürfte auf absehbare Zeit allerdings der Brexit bleiben. Und da wäre ein Labour-Wahlsieg für die Wirtschaft wohl ein Segen. Denn Jeremy Corbyn möchte im Fall eines Wahlsieges mit der EU einen neuen, "weichen" Brexit-Deal aushandeln. Die Briten sollen danach in einem Referendum entscheiden dürfen, ob sie sich für diesen Deal aussprechen - oder lieber in der EU bleiben möchten. Beides dürfte für die Wirtschaft mit großer Wahrscheinlichkeit besser sein als Boris Johnsons vergleichsweise harter Brexit-Kurs.