Großdemonstrationen in Athen Griechen meutern gegen das Spardiktat
Das Gesicht des Protests kann hager sein und blass wie das von Ilias. Es kann auch rosig und voll sein, wenn es Magdalena gehört. Oder jung und kämpferisch, wie bei Konstantinos. Der Protest an diesem Mittwoch in Griechenlands Hauptstadt Athen hat Abertausende Gesichter und Abertausende Geschichten, doch die Parole ist immer dieselbe: "Diese Regierung macht uns kaputt."
So formuliert es der beschäftigungslose Bauarbeiter Ilias Kosmopoulos, 33, der mit seinen Kollegen eine "Herrschaft des Volkes" erzwingen möchte. Die Krankenhausangestellte Magdalena D., 43, hingegen, Mutter zweier Töchter, wäre einfach froh, wenn sie nach vielen Monaten für ihre Arbeit endlich wieder bezahlt würde. "Die ganze Familie muss von meinem Gehalt leben."
Pfleger Konstantinos Tsoukas, 26, treibt die Sorge um die ihm Anvertrauten auf die Straße: "Ich arbeite in einem psychiatrischen Krankenhaus und wir können unsere Patienten nur noch versorgen, weil wir die dazu notwendigen Lebensmittel in der Nachbarschaft erbetteln." Er selbst habe seit vier Monaten kein Geld mehr bekommen. Und jetzt wolle die Regierung die Therapiezentren ganz schließen. "Das ganze Land verelendet."
Der Gewerkschaftsboss Nikos Kioutsoukis, 48, indes will den Menschen mit den Arbeitsstellen auch ihre Würde zurückgeben. Und der Ingenieur Nikos Stefanatos, der erstmals seit Mai 2010 an einer Kundgebung teilnimmt, sagt: "Mein Monatseinkommen lag damals bei 2800 Euro, jetzt sind es noch 1500."

Nie zuvor sind in den vergangenen Jahrzehnten so viele ganz unterschiedliche Griechen gemeinsam auf die Straßen gegangen, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen: Lehrer, Rechtsanwälte, Pfleger, Ingenieure, Taxifahrer, Postboten und Straßenbahnschaffner bahnen sich ihren Weg durch die Athener Innenstadt. "Das Volk schuldet nichts, besteuert die Reichen", rufen sie und: "Volk, steh auf, es ist Zeit wieder Widerstand zu leisten."
Es ist ein gewaltiges Heer der Verzweifelten, das sich gegen die noch zu beschließenden Sparmaßnahmen stemmt. 200.000 Menschen versammelten sich nach Angaben der Gewerkschaften im Zentrum Athens. 70.000 Demonstranten schätzte die Polizei. Die Zahl ist ein Politikum, führt sie doch unweigerlich zu der Frage: Wie viele Bürger stehen eigentlich noch hinter der Regierung?
"Subtrahieren und dividieren"
Griechenland muss sparen, sonst fließen keine Gelder aus Europa, sonst droht die Staatspleite. Ein Ende des Schreckens ist noch immer nicht in Sicht. Am Donnerstag wird das Parlament erneut über einen weitreichenden Gesetzentwurf des Finanzministers abstimmen müssen, am Mittwochabend billigten die Abgeordneten den Entwurf bereits in erster Lesung. Dieser hat 57 Seiten, umfasst 41 Artikel und sieht die bisher drastischsten Einschnitte für Millionen Menschen vor: Die bereits reduzierten Gehälter der Beamten sollen nochmals gekürzt werden, teilweise sogar um die Hälfte. Es drohen Massenentlassungen.
Auch in der Privatwirtschaft werden die Löhne wohl deutlich sinken, ebenso die Pensionen und Renten. Hinzu kommen zahlreiche neue Sonderabgaben. "Die Regierung beherrscht nur noch zwei Grundrechenarten", ätzt Gewerkschafter Kioutsoukis, "nämlich subtrahieren und dividieren." Und sein Kollege Giannis Panagopoulos sagt, die Bevölkerung erhebe sich gegen die "unfairen, unsozialen und ineffizienten" Beschlüsse.
Und was macht das Kabinett? Finanzminister Evangelos Venizelos fordert im Vorfeld des Votums von den Abgeordneten Verständnis, um nicht zu sagen: Folgsamkeit. Die Griechen hätten keine Wahl, sie müssten ihre Not akzeptieren. "Wir müssen all diesen empörten Menschen, die sehen, wie sich ihre Leben ändern, klarmachen, dass das, was das Land derzeit erlebt, nicht die schlimmste Phase der Krise ist", sagt Venizelos und meint: Es kann noch viel ärger werden, wenn die Gesetze nicht verabschiedet werden. "Der Unterschied zwischen einer schwierigen Situation und einer Katastrophe ist gewaltig."
Doch selbst einige Parlamentarier aus den Reihen der regierenden Sozialisten haben angedeutet, dass sie möglicherweise gegen Teile des Sparplans stimmen wollen, der Griechenland weitere internationale Finanzhilfe sichern soll. Sollte der Staat nicht bald eine dringend benötigte weitere Kredittranche erhalten, kann er nach Angaben der Regierung schon im November keine Gehälter und Pensionen mehr zahlen.
Die Ärzte streiken, die medizinische Versorgung ist schlecht
Gegen 14 Uhr mischt sich in die friedliche Empörung der demonstrierenden Massen in Athen die Gewalttätigkeit weniger Personen. Jugendliche versuchen auf dem Syntagma-Platz, ein Absperrgitter zu überrennen. Die Polizei, die bis dahin im Straßenbild kaum aufgefallen ist und den Hunderttausenden Protestlern kaum etwas entgegensetzen kann, schleudert Tränengasgranaten in die Menge. Angeblich sollen 3000 Beamte im Einsatz sein, zu sehen sind nur wenige.
Es beginnt aufs Neue das ewige griechische Katz-und-Maus-Spiel für junge Männer, das sich sicherlich noch bis spät in die Nacht ziehen wird: Autonome gegen Sicherheitskräfte. Die einen preschen vor, die anderen weichen zurück, dann wogt die Menge in die andere Richtung. Ein Wachhäuschen vor dem Präsidentenpalast wird in Brand gesteckt, Demonstranten schlagen mit Hämmern und Brechstangen auf Gebäude ein, zerstören blindlings Marmortreppen und werfen Fenster ein.
Weil ein zweitägiger Generalstreik derzeit das öffentliche Leben Griechenlands lahmlegt, sind die Kliniken nicht auf eine Vielzahl von Notfällen eingestellt. Zu den Berufsgruppen im Arbeitskampf zählen Fluglotsen, Busfahrer, Müllarbeiter, Bäcker, Lehrer, Tankstellenpächter, Seeleute - und eben auch Ärzte. Es könnte sehr gefährlich sein, am Mittwochabend in Athen auf medizinische Hilfe angewiesen zu sein.
Räumung am Abend
Am Abend dann räumt die Polizei nach stundenlangen Auseinandersetzungen mit schwarz vermummten Jugendlichen den Platz, an dem auch das Parlament seinen Sitz hat. Die Polizei geht mit Tränengas gegen Randalierer vor, die Steine und Brandsätze werfen. Der Qualm brennender Autoreifen verhinderte den Blick auf die Akropolis. Ein Bankgebäude, in dem durch einen Molotow-Cocktail ein Brand ausgebrochen ist, wird evakuiert.
In den Nebenstraßen gehen die Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Chaoten weiter. Mindestens sieben Menschen werden ins Krankenhaus gebracht. Es gibt zahlreiche Leichtverletzte, die über Atemnot klagen oder leichte Verbrennungen beziehungsweise Platzwunden erlitten haben.
Dieser Auseinandersetzungen ungeachtet sollen die Proteste am nächsten Tag fortgesetzt werden. "Wir brauchen einen echten Volksaufstand", sagt der Bauarbeiter Kosmopoulos und greift zum Megafon. Der Kampf müsse weitergehen.