Hartz-IV-Bildungspaket Von der Leyens Prestigeprojekt floppt

Das milliardenschwere Bildungspaket für 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche aus armen Familien kommt bei den Betroffenen nicht an: Bislang haben gerade einmal zwei Prozent der Berechtigten einen Antrag gestellt. Das zeigt eine SPIEGEL-ONLINE-Umfrage in den größten Städten Deutschlands.
Arbeitsministerin von der Leyen: Verzicht auf 108 Euro pro Kind

Arbeitsministerin von der Leyen: Verzicht auf 108 Euro pro Kind

Foto: THOMAS PETER/ REUTERS

Hamburg - Wenn Ursula von der Leyen über das Bildungspaket für arme Kinder spricht, weist die Arbeitsministerin und Mutter von sieben Kindern stets auf ein Detail hin, das ihr besonders wichtig ist: Kinder aus Hartz-IV-Familien hätten nun einen Rechtsanspruch auf ein warmes Mittagessen in der Schule. Als ob es bislang für den Nachwuchs von Arbeitslosen in Schulen und Kitas nur kalte Platte gegeben hätte.

Allerdings könnte von der Leyens stark beworbenes Projekt für eine bessere Zukunft ein gewaltiger Flop werden. Die Resonanz der armen Familien, in denen rund 2,5 Millionen Kinder leben, ist äußerst bescheiden. Nur ein Bruchteil von ihnen hat bereits einen Antrag bei den Behörden gestellt. Dies geht aus einer SPIEGEL-ONLINE-Umfrage in Berlin, Hamburg, München, Köln und anderen Großstädten hervor.

Und die Zeit drängt. Das Hartz-IV-Gesetz trat erst nach endlosen Verhandlungen mit der Opposition Ende März in Kraft, ist de facto aber bereits seit Anfang Januar wirksam. Um rückwirkend Geld zu bekommen, können Hartz-IV-Familien und Geringverdiener seit Anfang April für ihre Kinder Zuschüsse aus dem milliardenschweren Bildungs- und Teilhabepaket abrufen. Um für Januar bis März nicht leer auszugehen, müssen die Empfänger von Arbeitslosengeld II allerdings bis Ende April Geld einfordern. Damit ist die Hälfte der Vier-Wochen-Frist für sie bereits abgelaufen. Wohngeldempfänger haben immerhin einen Monat länger Zeit.

Es geht um viel Geld: Monatlich stehen jedem Kind 26 Euro für ein Mittagessen in der Schule oder in der Tagesstätte und zehn Euro für Vereinsbeiträge zu. Macht für drei Monate 108 Euro pro Kind. Zum Vergleich: Der Hartz-IV-Satz für Erwachsene stieg Anfang des Jahres gerade einmal um fünf Euro.

Es geht ausgesprochen ruhig zu

Ausgerechnet in der Hartz-IV-Hochburg Berlin könnten die meisten Langzeitarbeitslosen die Frist einfach verstreichen lassen. Und damit den Anspruch auf das Geld verlieren. Dabei könnten in der Hauptstadt rund 200.000 Kinder aus armen Familien von dem Zuschuss profitieren. "In den Jobcentern geht es ausgesprochen ruhig zu", sagt Olaf Möller von der Arbeitsagentur. Die Anträge kämen nur plätschernd herein, an keinem Standort gebe es mehr als ein paar hundert ausgefüllte Formulare. "Es sieht nicht danach aus, als würde sich das in den kommenden Tagen ändern", sagt Möller.

Das gleiche Bild bietet sich in Hamburg, der zweitgrößten Stadt der Republik. 50.000 Kindern stehen hier seit der jüngsten Hartz-IV-Reform Zuschüsse für Essen, den Sport- und Musikverein oder auch für Nachhilfe zu. Soweit die Theorie. In der hanseatischen Praxis aber hat sich so gut wie nichts verändert. "Wir haben einen Ansturm erwartet, der ist aber ausgeblieben", sagt Horst Weise vom Hamburger Jobcenter. Lediglich 40 oder 50 Anträge seien bisher in den einzelnen Stadtteilen eingegangen.

Auch in München, Frankfurt, Düsseldorf und Dortmund liegt die Zahl der Anträge nur im mittleren dreistelligen Bereich. In den vier Städten haben jeweils rund 30.000 Kinder Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungspaket. Die Quote der Antragssteller an den Berechtigten liegt damit bei nur zwei Prozent.

So auch in Essen: Nur für 800 von 40.000 Kindern und Jugendlichen wurden bislang Leistungen beantragt. Auch in Hannover mit rund 60.000 Berechtigten ist die Resonanz nach Angaben der Stadt "verhalten". Ernüchternd ist die Bilanz in Köln. Hier liegt die Quote sogar nur bei rund einem halben Prozent (300 von 56.000 Berechtigten).

Ob alle, die einen Antrag ausgefüllt haben, auch zum Zuge kommen, ist fraglich. Denn viele Formulare seien falsch ausgefüllt oder von Personen gestellt worden, denen kein Geld zustehe. "Die Qualität vieler Anträge ist bescheiden", heißt es in einer Stadt.

Erwerbslosenverein prangert schlechte Informationspolitik an

Warum bloß lassen Familien, die ohnehin wenig haben, geschenktes Geld für ihre Kinder liegen? Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland macht die schlechte Informationspolitik der Regierung verantwortlich. "Viele Eltern wissen überhaupt nicht, dass sie einen Anspruch haben." Vor allem Familien, die Wohngeld oder Kinderzuschläge bekämen, hätten nichts davon mitbekommen.

Soll also mal wieder nur die Politik schuld sein? Der Sprecher eines Landesministeriums weist die Kritik zurück - und gibt auch den Anspruchsberechtigten eine Mitverantwortung. Die Klientel informiere sich häufig schlecht und sei auch durch Informationen in Medien oder entsprechende Kampagnen nur schwer zu erreichen. "Trotzdem bleibt es natürlich das Ziel, auf absehbare Zeit die Zielgruppe des Bildungspakets zu 100 Prozent abzudecken", so der Sprecher weiter. Es sei jedoch die Aufgabe der Kommunen, die Hartz-IV- und Wohngeldempfänger auf ihre Ansprüche hinzuweisen.

Den Vorwurf lassen die Städte nicht auf sich sitzen. In Essen und München heißt es, man habe im Vorfeld viel geworben. Es zeige sich jedoch, dass nun vor allem die Eltern Geld beantragten, die sich auch früher schon viel um ihre Kinder gekümmert hätten: "Die wirklich Abgehängten erreichen wir immer noch nicht."

Dennoch wollen die meisten Kommunen die Eltern nun verstärkt ansprechen - auch indirekt über die Kinder. So sollen Kitas und Schulen in Essen Briefe an die Erziehungsberechtigten verschicken. Allerdings haben am Freitag in Nordrhein-Westfalen die Osterferien begonnen. Auch beim Städte- und Gemeindebund heißt es, man werde künftig gezielter werben.

Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum ist das nicht genug. Er fordert eine Fristverlängerung, um das Geld für die ersten drei Monate rückwirkend beantragen zu können. "Das wäre das richtige Signal des Arbeitsministeriums an die armen Familien."

Ob Ministerin von der Leyen zur Rettung ihres Prestigeprojekts auf diese Forderung eingeht, ist offen. Das Ministerium verweist auf Anfrage lediglich noch einmal auf das gesetzliche Ende der Frist - und fordert die Familien auf, ihre Anträge noch rechtzeitig zu stellen.

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