Sozialstaat Verdrängt vom Immobilienboom

Wohnblock nahe Offenbach
Foto: Andreas_Gebhard/ picture-alliance / dpaDer Termin ist Anne Kleins* letzte Hoffnung. Mitte 2016 hat der Staat die Zahlungen für ihre Wohnung gekürzt. Nun ist Anfang 2017, der Dispo ist ausgereizt, die Mietschulden steigen, eine Räumungsklage droht. Klein denkt, die Frau vom Jobcenter könne ihr helfen.
"Was ich dann erlebte", erzählt die 59-Jährige mit den dichten Locken und dem goldenen Nagellack, "verstört mich noch immer".
Klein sitzt im Großraumbüro eines Hamburger Jobcenters und erklärt der Mitarbeiterin mit leiser Stimme ihre Lage. Sie hat ihr ganzes Leben gearbeitet, zwei Kinder großgezogen. Sie schämt sich, so tief gesunken zu sein.
Klein erzählt vom Burnout, wegen dem sie im Sommer 2015 ihren Job verloren hat und inzwischen Hartz IV bezieht. Von den Panikattacken, wegen denen sie sich kaum noch auf die Straße traut. Vom Schlaganfall, wegen dem sie beim Reden oft innehalten muss, um nach dem nächsten Wort zu suchen.
"Bitte...", sagt Klein. "Wenn ich... ausziehen muss, dann weiß... ich nicht... wohin."
Anne Klein hatte auf Verständnis gehofft. Doch das Jobcenter habe ihren Antrag letztlich abgewiesen. Klein habe sich nicht ausreichend um günstigeren Wohnraum bemüht, heißt es offiziell.
Nach dem erfolglosen Behördengang geht Anne Klein in einen nahegelegenen Park. Sie setzt sich auf eine Bank, in ihrem Kopf rasen die Gedanken. Heute sagt sie, dass sie in diesem Moment begriffen hat, warum Leute manchmal denken: "Es ist wohl besser, ich mache Schluss."
Bedenkliche Kettenreaktion
Es gibt in Deutschland derzeit viele Menschen, denen es ähnlich geht wie Anne Klein: Empfänger von Sozialhilfe oder Hartz IV, die in finanzielle Not geraten, mitunter sogar fürchten müssen, auf der Straße zu landen. Hauptgrund dafür ist ein historischer Immobilienboom, der den Sozialstaat an seine Grenzen bringt.
Die Frage ist, ob die Regierung ihren Anspruch, jedem Bundesbürger in Notlagen beizustehen, überhaupt noch erfüllen kann.
Das Fürsorgesystem, das auf dem Prüfstand steht, funktioniert im Kern wie folgt: Die sogenannten Bedarfsgemeinschaften - also die Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger - bekommen von den Jobcentern Geld, um ihre Miete und ihre kalten Betriebskosten zu zahlen. Rund ein Drittel der Kosten trägt der Bund, etwa zwei Drittel die Kommunen.
Der Sozialstaat zahlt aber nur bis zu einer gewissen Obergrenze. Diese variiert nach Größe des Haushalts - und nach Wohnort: Denn wie viel Geld angemessen ist, legt jede Kommune selbst fest .
Mit der Obergrenze gibt es schon lange Probleme. Laut Bundesagentur für Arbeit lagen in den vergangenen Jahren stets rund ein Fünftel der Bedarfsgemeinschaften über ihr - im April 2017 zum Beispiel rund 590.000 der ungefähr 3,1 Millionen Haushalte.
Die Kosten für die Unterkünfte von Bedarfsgemeinschaften sind beträchtlich: 2016 beliefen sie sich auf knapp auf 17,8 Milliarden Euro. Schätzungsweise 600 Millionen Euro davon entfielen auf Zuwendungen über der Obergrenze.
Die Jobcenter versuchen zu sparen: Sie fordern Haushalte mit Wohnkosten über der Obergrenze schriftlich auf, diese zu senken - zum Beispiel, indem sie eine günstigere Bleibe suchen. Wer das nicht tut, dem werden nach sechs Monaten die Zuwendungen gekürzt: Alles, was über der Obergrenze liegt, muss dann selbst gezahlt werden.
Das klingt zunächst einleuchtend. Schließlich muss der Staat verhindern, dass Hartz-IV-Empfänger in zu großen und zu teuren Wohnungen leben. Dass Steuergelder verschwendet werden und sozialer Unfrieden entsteht.
Namhafte Forscher halten das System dennoch für ungerecht. "Die klammen Kommunen setzen die Obergrenzen oft zu niedrig an", sagt der Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Hochschule Koblenz. "Schon in normalen Zeiten decken sie kaum die wirklichen Mieten und Betriebskosten ab."
Derzeit sind keine normalen Zeiten. Der Immobilienmarkt boomt wie seit Jahrzehnten nicht. Laut Sell löst das im Sozialstaat eine bedenkliche Kettenreaktion aus: Die Mieten steigen - was immer mehr Bedarfsgemeinschaften über die Obergrenze drückt. Die Betroffenen können ihre Kosten meist nicht senken, weil es kaum noch günstigen Wohnraum gibt. Am Ende kürzt der Staat den sozial Schwachen die Zuwendungen - und die geraten teils in existenzielle Nöte.
"Ich bekam ständig nur Absagen"
Wie schwierig es ist, als Hartz-IV-Empfänger eine neue Wohnung zu finden, hat Bernd Bauer*, 59, früher Möbelspediteur, am eigenen Leib erfahren. Als seine Frau verstirbt, bekommt auch er einen Brief vom Jobcenter. Bauer sei jetzt ein Einpersonenhaushalt, schreibt ihm ein Sachbearbeiter. Seine Wohnung - vermietet von der Wohnungsbaugesellschaft Saga - liege 60 Euro über der Obergrenze. "Daher muss ich Sie um die Reduzierung Ihrer monatlichen Mietkosten bitten."
Bauer macht sich auf die Suche nach einer günstigeren Wohnung. Doch die Auswahl ist wegen des Immobilienbooms gering. Und bei den wenigen Wohnungen, die infrage kommen, hat Bauer kaum eine Chance. "Ich bekam ständig nur Absagen", erinnert er sich. "Vermutlich, weil ich in Privatinsolvenz war. Und weil ich es mir nicht leisten konnte, die Kaution am Stück zu zahlen."
Ein einziges Mal will ein Vermieter ihn einziehen lassen. Doch das Jobcenter lehnt dieses Angebot ab - weil es eine Staffelmiete enthält, die nach einigen Jahren wieder über der Obergrenze liegen würde.
Bauer gibt schließlich auf. Bleibt in seiner alten Wohnung. Die 60 Euro, die er nun selbst zahlen muss, knapst er sich von seinen rund 400 Euro Hartz IV ab. Auf dem Speiseplan stehen jetzt meist Nudeln.
Die gespaltene Republik
Glaubt man Markus Mempel, dann war das Angebot an günstigen Mietwohnungen noch nie so schlecht wie jetzt. Drei einander verstärkende Faktoren kämen zusammen, sagt der Sprecher des Deutschen Landkreistags.
Da ist, erstens, das Problem der steigenden Mieten - welches sich zusätzlich verschärft, weil sich, zweitens, das Angebot an bezahlbarem Wohnraum verknappt, vor allem in den Städten. Kurz vor der Wiedervereinigung gab es alleine in Westdeutschland noch knapp vier Millionen Sozialwohnungen; 2016 waren es in der gesamten Bundesrepublik noch 1,3 Millionen. Die Konkurrenz um die wenigen Sozialwohnungen hat sich, drittens, zuletzt verschärft - auch weil immer mehr Flüchtlinge mit ihren Familien in das Hartz-IV-System kommen.
Wie sehr die sozial Schwachen unter dieser Situation leiden, hängt vor allem von den Kommunen ab. Denn diese legen alle zwei Jahre die Obergrenzen für angemessenes Wohnen neu fest. Je realistischer sie den Markt abbilden, desto besser finden Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger bezahlbaren Wohnraum. "Im aktuellen Markt ist das eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe", räumt Mempel ein.
Sozialwissenschaftler Sell bezweifelt, dass das System noch überall im Land funktioniert. "Manche Sozialhilfeempfänger werden geradezu aus ihren Wohnungen gedrängt", sagt er. "Sie verlieren dadurch ihr soziales und nachbarschaftliches Umfeld, auf das sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage besonders angewiesen sind."
Zudem würden Segregationsprozesse angeheizt. "Neue Wohnungen finden die Verdrängten, wenn überhaupt, nur in unattraktiven Lagen, in Kleinstwohnungen oder im teils menschenunwürdigen Substandard", sagt Sell.
Für die Vermieter seien die Umzüge dagegen ein Glücksfall. Denn sie können nach einem Wechsel kräftig die Miete erhöhen, moniert Sell. "Der Bestand an günstigen Wohnungen geht dadurch noch weiter zurück."
Wege aus der Krise
An einem sonnigen Morgen Ende September betritt Marcus Harms sein Büro bei der Ambulanten Hilfe Hamburg, Beratungsstelle Altona. Harms, 44, berät unter anderem Hartz-IV-Empfänger, die Probleme haben, ihre Wohnungen zu halten. Er vertritt in scheinbar aussichtslosen Situationen ihre Interessen.
Man könnte auch sagen: Harms macht den Job, den eigentlich die Jobcenter machen müssten. Er ist damit in letzter Zeit ziemlich ausgelastet. "Die Zahl der Menschen, die Unterstützungsbedarf haben, ist deutlich gestiegen", sagt er.
Anne Klein hatte Glück, dass sie letztlich von der Ambulanten Hilfe erfuhr. Harms half ihr, ärztliche Atteste zu besorgen, die belegen, dass sie zu einem Umzug derzeit nicht in der Lage ist. Seit Ende Mai 2017 übernimmt das Jobcenter wieder ihre volle Miete - auch rückwirkend. Ihre Schulden ist sie damit los.
Auch Bernd Bauer wird inzwischen von Markus Harms vertreten. Er fand mit seiner Hilfe am Ende doch noch eine bezahlbare Wohnung. Die liegt zwar deutlich weiter weg vom Zentrum als seine alte. Aber immerhin.
Harms sagt, dass längst nicht alle seine Fälle so gut ausgehen. Er glaubt, der Staat sollte daran gemessen werden, wie gut er Bürger in sozialen Notlagen unterstützt, jeden einzelnen von ihnen. "Derzeit müssen wir leider immer öfter feststellen, dass der Sozialstaat dabei versagt."
Es gibt eine Reihe Vorschläge, um das Sozialsystem an den Immobilienboom anzupassen. Der naheliegendste ist, die Obergrenzen anzuheben. Doch damit sollte man es nicht übertreiben: 2015 etwa wurden die Obergrenzen für Mieten und Betriebskosten in Berlin hinaufgesetzt. In der Folge verteuerten sich die Mieten in den betroffenen Stadtteilen noch stärker als zuvor - worunter vor allem Geringverdiener mit einem Einkommen knapp über dem Anspruch auf Hartz IV litten. Das Problem der Ungleichheit wurde nur verlagert, nicht gelöst.
Nachhaltig helfen würde aus Sicht von Experten nur eines: "Die Zahl der Sozialwohnungen müsste wieder deutlich steigen", sagt Christian von Malottki vom Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt. Zudem könne man die Obergrenzen öfter anpassen als nur alle zwei Jahre. Doch dafür müssten erst einmal die Gesetze geändert werden.
Ein Hamburger Bündnis fordert deshalb noch eine Sofortmaßnahme: Sozialhilfeempfänger sollten vorerst nicht mehr aufgefordert werden, die Kosten der Unterkunft zu senken, schreiben der Caritasverband, das Diakonische Werk und der Verband Mieter helfen Mieter in einer gemeinsamen Erklärung . Ein solches Moratorium würde den Druck auf die sozial Schwachen rasch verringern. Die in Hamburg regierende SPD reagierte auf den Vorschlag eher skeptisch .
Anne Klein hält ein solches Moratorium indes für eine gute Idee. Vor allem aber hofft sie, sich selbst zu helfen. Sie ist mit einem Arbeitgeber in Kontakt, um zumindest wieder ein paar Stunden pro Woche ihr eigenes Geld zu verdienen. Mit der Zeit, hofft sie, werde sie sich langsam steigern können.
Denn eines will sie in ihrem Leben nie wieder tun müssen: das Jobcenter um Hilfe bitten. Den Glauben an den deutschen Sozialstaat, sagt sie, habe sie komplett verloren.
*Namen geändert