Nachhaltige Produktion Wettrennen um den Öko-Teppich

Die Produktion von industriell gefertigten Teppichen verschlingt große Mengen Rohöl - das kommt bei öko-bewussten Kunden nicht gut an. Die Hersteller suchen deshalb fieberhaft nach grünen Alternativen.
Von Felix Brumm
Garn: Die Herstellung verursacht gut die Hälfte aller negativen Umwelteinflüsse

Garn: Die Herstellung verursacht gut die Hälfte aller negativen Umwelteinflüsse

Foto: PEDRO ARMESTRE/ AFP

An Scherpenzeel wird die Mission nicht scheitern. An diesem Standort in den Niederlanden haben die Mitarbeiter von Interface schon alles in die Wege geleitet. Sie sind mit Infrarotkameras über das Gelände gelaufen, um Energiefresser zu entlarven. Sie haben ihre Energieversorgung auf Biogas umgestellt und entsorgen Abfälle nicht mehr auf Deponien, sondern recyceln sie im Betrieb. Sie haben ihre Kunden aufgefordert, abgenutzte Teppichfliesen einzuschicken, was diese auch tun.

Und trotzdem, sagt Nachhaltigkeitsmanagerin Laura Cremer, sei noch immer Luft nach oben. Weltweit hat Interface sein Ziel erst zu mehr als der Hälfte erreicht. Das Problem sind die Produktionsstätten des Unternehmens in Amerika und in China. Die hinken hinterher. Erst ab 2016 wollen sie auch dort ihre Fertigung auf erneuerbare Energien umstellen. Sie wollen die Produktion "Schritt für Schritt harmonisieren", so nennt Cremer das.

Was übersetzt bedeutet: Die selbst gesteckte "Mission Zero" wird voraussichtlich scheitern. Das Ziel: Bis zum Jahr 2020 will der amerikanische Textilkonzern Interface zum weltweit ersten Unternehmen aufsteigen, das keine negativen Auswirkungen mehr auf die Umwelt hat. Das ist jetzt kaum mehr möglich. Stolz sind sie in der Europazentrale im niederländischen Scherpenzeel trotzdem. Denn sie haben etwas anderes erreicht: Sie haben eine ganze Branche zum Umdenken gebracht.

Interface stellt Teppichfliesen her. Sie liegen in Büros und Hotels, in Schulen oder auf Kreuzfahrtschiffen aus und werden, ähnlich wie Tapeten oder Parkettboden, jedes Jahr millionenfach bestellt, verlegt und ausgewechselt.

Anders als bei T-Shirts oder Schuhen gibt es im Teppichgeschäft aber keine kritische Öffentlichkeit. Kaum einer fordert Umwelt- und Sozialstandards. Trotzdem hat ausgerechnet in dieser Nische - unterhalb des Verbraucherradars - ein Wettrennen um Nachhaltigkeit eingesetzt. Wie konnte es dazu kommen?

Wer seine Ökobilanz verbessert, entlastet die Umwelt sehr

Das Gelände in Scherpenzeel liegt zwischen Viehweiden und Klinkerhäusern. Einst standen hier die Ziegenställe von Heuga. Der niederländische Hersteller hat die Teppichfliese erfunden - und verarbeitete dafür Ziegenhaar. Interface übernahm den Pionier 1988 und stieg zum Weltmarktführer auf. Der Konzern ist groß: Zuletzt hat er mit 3000 Mitarbeitern weltweit etwa eine Milliarde Dollar umgesetzt.

In den Produktionshallen rattert und walzt es ohne Pause. Aus Hunderten Rollen Garn entstehen allein in Scherpenzeel 13 Millionen Quadratmeter Teppichfliesen pro Jahr - genug, um damit die Nordseeinsel Norderney auszulegen. "Sei stolz, mach mit und schreib Geschichte" - so steht es zwischen den Maschinen auf einem Plakat. Viele solcher Poster hängen hier, sie sollen anspornen. Auf einigen prangt ein Astronaut, das Maskottchen der Mission Zero.

Die Idee dazu geht zurück auf den verstorbenen Gründer Ray Anderson. Ein Kunde hat ihn 1993 gefragt, was sein Unternehmen eigentlich für die Umwelt tue. Anderson hatte keine gute Antwort parat, der Kunde zog weiter. Also trommelte Anderson Wissenschaftler, Denker und Designer zusammen. Gemeinsam entwarfen sie die Mission Zero mit dem Ziel, Interface bis 2020 radikal umzustellen - durch den Einsatz erneuerbarer Energien, durch geschlossene Wasserkreisläufe, durch die Umstellung auf bio-basierte Rohstoffe. Industriell gefertigte Teppichwaren verschlingen enorme Mengen Ressourcen, vor allem Erdöl. Wer hier seine Ökobilanz verbessert, entlastet die Umwelt sehr.

Allerdings geht das nicht ohne Kooperationen. "Alles, was innerhalb unserer Werktore passiert, können wir steuern und kontrollieren", sagt Nachhaltigkeitsmanagerin Cremer. In der Produktion fielen aber nur neun Prozent aller negativen Auswirkungen an. Problematisch sei vielmehr das Garn, sagt Cremer. Dessen Herstellung verursache gut die Hälfte aller negativen Umwelteinflüsse. Will Interface nachhaltiger sein, muss das Unternehmen also auch die Zulieferbetriebe für seine Ideen und Ziele begeistern.

Mit diesem Umdenken begann Ray Andersons Idee, über sein Unternehmen hinauszuwachsen.

Auffällige Parallelen zwischen Interface und Desso

Der italienische Garnhersteller Aquafil hat mitgezogen. Gemeinsam mit Interface rief Aquafil 2012 auf den Philippinen ein neues Programm ins Leben. Vor den Küsten des Inselstaates treiben etliche Fischernetze durch das Meer. Weltweit sollen es 640.000 Tonnen sein. Das ist ein Problem - und zugleich eine Losung. Denn die Netze bestehen - wie Garn - aus Nylonfasern, und die lassen sich als Rohstoff für neue Teppichfliesen nutzen. Sie sorgen für umweltfreundlichen Nachschub. Mehr Arbeitsplätze hat die Idee auch gebracht: Heute leben gut 4000 Menschen auf den Philippinen vom Verkauf der Netze.

Aquafil hat 25 Millionen Euro in sein System investiert, das Fischernetze und Garnabfälle in neue Rohstoffe verwandelt. Für den Garnhersteller hat sich das gelohnt: Das neue, zu 100 Prozent recycelte Garn hat sich in kurzer Zeit auf dem Markt etabliert. Interface und andere Hersteller fragen das Garn nach, darunter Konkurrenten wie Desso, Anker, Vorwerk und Balsan. Allein im Jahr 2015 sollen dadurch mehr als 100.000 Tonnen CO2 vermieden und zwei Millionen Gigajoule Energie eingespart worden sein. Das entspricht in etwa dem Verbrauch der Stadt Rom in zehn Tagen.

Nicht nur Zulieferer, auch Rivalen ziehen nach: Desso hat sich vor einigen Jahren ähnlich hohe Ziele wie Interface gesetzt. Bis 2020 sollen die Fliesen des niederländischen Unternehmens - Umsatz 2014: 188 Millionen Euro - zu drei Vierteln aus recycelten Materialien bestehen. Die Produktion soll dann komplett mit erneuerbaren Energien betrieben werden.

Zwischen den Konkurrenten gibt es auffällige Parallelen: Beide haben ihre Europazentrale in den Niederlanden, keine 100 Kilometer voneinander entfernt. Beide wollen ihre Vision bis 2020 umsetzen, beide wollen verstärkt Abfälle nutzen und auf erneuerbare Energien setzen.

Doch einen wesentlichen Unterschied gibt es: Während Interface für seine Produkte Ökobilanzen erstellt, will Desso zusätzlich das gesamte Sortiment zertifizieren lassen. Das soll belegen, dass die Teppichfliesen gemäß den Prinzipien einer Kreislaufwirtschaft hergestellt werden, die auf den deutschen Chemiker Michael Braungart und den amerikanischen Architekten William McDonough zurückgeht. "Cradle to Cradle" heißt das dazugehörige Zertifikat. Interface lehnt das, auch aus Kostengründen, ab: "Mit dem Grundgedanken von Cradle to Cradle identifizieren wir uns zwar vollkommen", sagt Cremer, "aber wir haben Probleme mit seiner Kommerzialisierung."

Cradle to Cradle ist ein geschützter Begriff. Wer seine Produkte damit schmücken will, muss sich von der Hamburger EPEA GmbH zertifizieren lassen, die Firma von Vordenker Braungart. Desso ließ seine aktuelle Fliesenkollektion erst vor kurzem mit "Gold" zertifizieren - nach Platin die zweithöchste Auszeichnung.

Die Branche liefert sich ein Wettrennen um Nachhaltigkeit

Viele Konkurrenten experimentieren mit verschiedenen Materialien. Haushaltswaren-Hersteller Vorwerk hat eine Teppichfliese ohne erdölbasiertes Bitumen und ohne PVC entwickelt. Rivale Balsan hat eine Fliese im Angebot, deren Rücken überwiegend aus recyceltem Polyester aus Plastikflaschen besteht. Auch Interface forscht ständig weiter: Fliesen aus Rhizinusbaumfasern, Bio-Garn - einiges ist in Arbeit. Die Mitarbeiter sind aufgerufen, sich an der Jagd auf die letzten Prozentpunkte zu beteiligen. "Wir versuchen, sie ein Stuck weit aus ihrer Komfortzone herauszuholen", sagt Cremer. Neue Kollegen etwa müssen sich umgehend in Nachhaltigkeit schulen lassen.

Warum aber liefert sich gerade die Teppichfliesenbranche ein Wettrennen um Nachhaltigkeit?

Anita Kietzmann vom Institut Bauen und Umwelt e.V. (IBU) sagt, dass sich die Bodenbelagsindustrie "in besonderem Maße ihrer Verantwortung für das nachhaltige Bauen" bewusst sei. So sorgten die drei größten Verbände für elastische Bodenbelage, Laminat- und Teppichboden dafür, dass Mitgliedsfirmen die Umweltwirkungen ihrer Produkte offenlegten.

Das schafft Druck und verschärft den Wettbewerb. In vielen Fällen ergaben sich daraus Anreize für einzelne Hersteller, eigene Ökobilanzen zu veröffentlichen, um sich von den Durchschnittswerten der Branche abzuheben, sagt Kietzmann.

Hinter all dem steckt der Trend zum Grünen Bauen. Er zwingt die gesamte Branche mitzuziehen. "Mittlerweile bringen unsere Kunden auch ihre Nachhaltigkeitsmanager in die Verhandlungen", sagt Cremer. Inzwischen spiele Nachhaltigkeit in jedem fünften Projekt eine Rolle - nicht mehr nur der Preis und technische Daten.

Mieten statt kaufen

Der Öko-Boom der Branche ist auch politisch gewollt. So hat die Europäische Union 2013 eine Verordnung erlassen, die Bauwerke für Mensch, Tier und Umwelt sicherer machen soll. Seither müssen Bauprodukte strengere Anforderungen erfüllen, auch in Sachen Energie- und Ressourceneffizienz.

Zudem wollen viele Bauherren ihre Gebäude mit Green-Building-Standards auszeichnen lassen. Denn das hübscht das Image auf. Zumal sie oft vorweisen müssen, dass auch die Innenausstattung der Gebäude ökologischen Kriterien genügt. Fluffiger Teppich auf Erdölbasis macht sich da denkbar schlecht.

Viele Teppichfliesenhersteller versuchen, ihre Nachhaltigkeitsbemühungen mit gesundheitlichen Argumenten zu verknüpfen. Wer Weichmacher und Kleber durch bio-basierte Lösungen ersetzt, verhindert auch die Gefahr schädlicher Ausdunstungen von Fliesen. So sollen die Produkte von Desso angeblich nicht nur die Umwelt schonen, sondern auch die Luft im Raum filtern. Fliesen von Balsan sollen Geräusche schlucken und die Akustik verfeinern. Und Produkte von Interface sollen durch ihr "biophiles Design" die Natur ins Büro holen und so das Befinden der Mitarbeiter steigern.

Während die Branche sich gegenseitig hochschaukelt, feilt Interface bereits an der nächsten Strategie. Um noch grüner zu werden, konnte das Unternehmen bald einen kuriosen Weg gehen - abgeschaut von anderen Industrien: Es sei denkbar, sagt Nachhaltigkeitsexpertin Cremer, dass Kunden künftig Teppichfliesen nicht mehr kaufen, sondern mieten. Mal sehen, was sich die Konkurrenz dazu einfallen lasst.

Dieser Text stammt aus dem Magazin "enorm - Wirtschaft für den Menschen".

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