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Stefan Kaiser

Folgen für die Wirtschaft Jamaika am Ende - na und?

Politisch mag das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen aufwühlend sein. Der deutschen Wirtschaft dürfte es aber kaum schaden. Denn die fährt schon eine Weile ganz gut ohne Politik.

Wer den Lobbyverbänden der deutschen Wirtschaft glaubt, muss das Schlimmste befürchten. "Fatal" sei das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, orakelt der Handwerksverband - und "Gift" für die Wirtschaft. Jetzt gehe wertvolle Zeit verloren, argwöhnen einmütig die Bankenvertreter und der Industrieverband DIHK. Schlittert Deutschland durch das politische Chaos in Berlin nun also auch in eine wirtschaftliche Krise?

Die Gefahr dafür ist sehr gering. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass ein paar weitere Monate politischer Stillstand der Wirtschaft zumindest kurzfristig sogar ganz gut tun. Die großen ökonomischen Impulse setzten ohnehin andere: allen voran die Europäische Zentralbank mit ihrem Kurs der ultraniedrigen Zinsen.

Natürlich ist politische Unsicherheit nie schön für die Wirtschaft. Doch anders als sonstwo in der Welt, besteht aktuell in Deutschland kein wirkliches Risiko. Das Land hat eine funktionierende geschäftsführende Regierung. Und egal ob es nun auf eine Große Koalition, eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen hinausläuft - keines der möglichen Szenarien würde die grundsätzliche Stabilität Deutschlands infrage stellen.

Hinzu kommt, dass es der deutschen Wirtschaft derzeit so gut geht, dass sie akut keine grundlegenden Reformen nötig hat - erst Recht nicht jene, die eine Jamaika-Koalition wohl gebracht hätte.

Manchmal ist Verzögerung ein Segen

Die Konjunktur läuft so gut wie lange nicht mehr. Erst vor knapp zwei Wochen hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung seine Wachstumsprognose für 2018 auf 2,2 Prozent erhöht. Das wäre der stärkste Zuwachs seit 2011. Die Arbeitslosenquote ist historisch niedrig, Steuereinnahmen sprudeln, die Sozialkassen sind prall gefüllt.

In einer solchen Situation ist Nichtstun meist besser als hektisches Reformieren. Und so sehr sich mancher auch über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags freuen würde: In einer Phase, in der die Wirtschaft zu überhitzen droht, wäre eine groß angelegte Steuersenkung, wie sie sich vor allem die FDP wünscht, das falsche Mittel.

Wenn es um solche Reformen geht, ist die von den Lobbyverbänden so gefürchtete Verzögerung also nicht nur unproblematisch, sondern sogar ein Segen. Vielleicht sieht die konjunkturelle Lage in zwei oder drei Jahren ja schon wieder anders aus. Dann kann man die Steuern immer noch senken - und der Wirtschaft damit eher helfen.

Andere große Wirtschaftsprojekte hatte Jamaika sowieso nicht in petto. Das in einem Sondierungspapier festgehaltene ungefähre Bekenntnis zu mehr Investitionen in Schulen, Straßen und Brücken ist seit Jahren ein Gemeinplatz in fast allen Parteiprogrammen - und dürfte in jedem künftigen Koalitionsvertrag wiederzufinden sein.

Der einzig wichtige Punkt, bei dem wirklich Zeitdruck herrscht, ist die Reform der EU und der Eurozone. Hier wartet der französische Präsident Emmanuel Macron schon seit der Bundestagswahl auf die deutsche Antwort auf seine Vorschläge, die Europa wirklich voranbringen könnten. Die große Frage ist nur, wie europafreundlich diese Antwort mit einem FDP-Finanzminister ausgefallen wäre.

Vielleicht gilt hier in Anlehnung an das neue FDP-Credo: Besser gar keine Regierung als eine schlechte.

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