
Neue Wirtschaftsdoktrin Beschert uns Joe Biden eine Ära des Wohlstands?


Joe Biden
Foto: BRENDAN SMIALOWSKI / AFPErst war die Rede von einem Konjunkturpaket über 1,9 Billionen US-Dollar. Jetzt sollen noch einmal gut 2,2 Billionen dazukommen, wie Joe Biden kürzlich verkündet hat – um Amerikas Infrastruktur aufzupeppen. Der dritte Streich folgt wohl in Kürze – dann sollen von der Regierung noch einmal zwischen ein und zwei Billionen mobilisiert werden, um Schulen und Gesundheit zu fördern. Schwindelerregend.
Was der neue US-Präsident in seinen ersten Wochen ankündigt, hat es in Summe tatsächlich in sich – und manche scheint schon zu sorgen, dass all das viel zu teuer werden könnte; oder sogar zu Inflation führen, weil das Land gar nicht so viele Kapazitäten hat, diese Ausgaben bald umzusetzen. Mag sein, vielleicht für kurze Zeit. Allerdings ist das Kleinkram gegenüber dem, was sich hinter den großen Ankündigungen verbirgt – spätestens seit Finanzministerin Janet Yellen diese Woche zu alldem noch versprochen hat, eine internationale Mindeststeuer für Unternehmen zu befördern.
Hinter alldem scheint weit mehr als nur Irgendwie-Geldausgeben zu stecken – eher eine grundlegendere Zeitenwende und der Versuch, systematisch die Spätfolgen anzugehen, die jenes marktliberale Wirtschaftsdogma hinterlassen hat, mit dem vor 40 Jahren Ronald Reagan angetreten war. Nun könnte mit dem heutigen US-Präsidenten eine Philosophie von Wirtschaft und Globalisierung eine alte ablösen: Bidenomics statt Reaganomics.
Topmodels der liberalen Hochzeiten
Was Ronald Reagan 1981 im Gefolge der britischen Marktpredigerin Margaret Thatcher lostrat, hat als Leitmotiv lange nachgewirkt: dass der Staat nicht klein genug sein kann, Regulierung stört, der Wettbewerb im Grunde alles regelt, die Globalisierung gut ist, weil sie Druck macht, und die Menschen einfach ohne Druck nicht richtig leisten; weshalb nur finanzielle Anreize oder Entzug helfen – und (fast) alles, was sozial ist, nur vom Leisten abhält. Nirgends wurde das so konsequent umgesetzt wie in den USA und Großbritannien, den Topmodels aus marktliberalen Hochzeiten.
Da mussten Steuern sinken, zumindest auf Kapital, weil das ja scheu wie ein Reh sei; sollten Staaten im freien Wettbewerb um Investoren mit immer niedrigeren Steuersätzen werben – und waren Steueroasen toll, weil sie den Druck noch erhöhen. Da galt es, wo immer möglich, öffentliche Leistungen zu privatisieren, weil Private so etwas immer besser können. Und gegen den Klimawandel den Markt machen zu lassen – über hohe Preise auf CO₂-intensives Wirtschaften.
Da waren, logisch, Sozialhilfen zu streichen, weil das die Leute angeblich leistungsbereiter macht. Und die Gewerkschaften zu entmachten, damit auch bei den Löhnen der Druck nach unten wächst und die Unternehmen so mehr Geld für Investitionen haben – was am Ende allen zugutekommen sollte. Versprechen. Ebenso wie das Senken von Reichensteuern, weil die Reichen dann halt mehr fürs arme Volk leisten.
Da durften Regierungen sich natürlich auch nicht einmischen, wenn alte Industrien pleitegehen, ob durch neue Technologien oder globale Billigkonkurrenz – wenn das für soziale Brüche sorgt, sollte auch das der Markt regeln, und die Betroffenen sollten einfach flexibel und mobil sein.
Gescheiterte Wirtschaftsideologie
Nicht, dass all das nicht hier und da auch positive Wirkung hatte. Nur dürfte es lange keine nichtkommunistische Wirtschaftsideologie mehr gegeben haben, die zugleich so sehr danebenlag und so dramatische Schäden verursacht hat. Und die immer noch so kläglich an neuen Herausforderungen scheitert.
Da entartete der Steuerwettbewerb zu jenem fiskalisch ruinösen Wettlauf nach unten, den die US-Finanzministerin diese Woche beschrieben hat – und bei dem sich Irland, die Niederlande oder Inselchen wie die Bermudas als Steuerdiscounter auf Kosten der anderen bereichert haben, indem sie globale Konzerne mit Ministeuern anlockten. In den USA, so Yellen, habe dieser Wettlauf dazu geführt, dass Unternehmen heute anteilig an der Wirtschaftsleistung so verschwindend wenig Steuern zahlen wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg – ein Desaster fürs Gemeinwohl.
Was wiederum miterklären dürfte, warum die USA – nächstes Drama – 40 Jahre nach Reagans Start zum Drittklasseland abgestiegen sind, wenn es um öffentliche Infrastruktur geht. Wer so viel Steuern erlässt, klar, hat halt kein Geld mehr für anderes. Nach Schätzungen der Allianz Research wären allein 866 Milliarden Dollar öffentlicher Gelder nötig, um die US-Bahnnetze auf den Standard etwa der Niederlande zu bringen. Und gut 300 Milliarden, um das Stromnetz zu sichern – Gruß nach Texas. Alles in allem müssten in die Infrastruktur demnach 1,4 Billionen Dollar staatlich investiert werden.
Zu den katastrophalen Folgen der Reganomics gehört auch, dass sich der Anteil des reichsten Prozents der Amerikaner an den gesamten Einkommen in den USA seit Anfang der Achtzigerjahre von 10 auf gut 20 Prozent verdoppelt hat – während sich der Part der unteren Hälfte von 20 auf etwa 13 Prozent reduzierte: was für ein Desaster für ein Dogma, wonach das Tätscheln der Reichen via »trickle down« zum Wohl aller hätte führen sollen.
Gescheitert scheint die Markt-Doktrin auch beim Klimaschutz – wo mittlerweile klargeworden ist, dass es nicht reicht, einfach nur auf höhere CO₂-Preise zu setzen und zu hoffen. Auch da fehlen eine Menge staatlicher Investitionen.
Systematisches Abarbeiten der Schadensliste
Wenn das stimmt, wird klarer, was und warum Biden jetzt wo ansetzt. Dann wirken die Pläne wie ein ziemlich systematisches Abarbeiten der Schadensliste. Dafür sollen die beiden Billionen sorgen, die jetzt in die Besserung der Infrastruktur gehen sollen – in Straßen, Brücken, Häfen und Bahnlinien. Nach Allianz-Schätzung würde das Geld reichen, um die Lücke bis 2030 zu schließen. Dazu gehören auch massive Investitionen etwa in Ladestationen für Elektroautos oder klimaschonenderen Strom – etwa die Hälfte des Investitionspakets, das Biden plant, wird von den Experten als grün eingestuft. Auch das ist ein Zeitenwandel, zumal gegenüber Vorgänger Sie-wissen-schon.
Dazu beitragen dürften auch diverse Pläne, die helfen sollen, die Kluft zwischen Reich und Arm wieder zu schließen oder zumindest nicht weiter wachsen zu lassen: ob über ein universelles Kindergeld, das für Familien bald wie eine Art garantiertes Basiseinkommen wirken könnte; oder die massive Förderung von Care jobs, Schuldenerlass für Studenten, einen weit höheren Mindestlohn und höhere Steuern für besonders Reiche – oder Bidens deklarierten Einsatz dafür, dass Beschäftigte sich wieder stärker in Gewerkschaften organisieren, um das Ausmaß zu reduzieren, in dem Schwächere ausgenutzt werden.
Zum Neuen zählt auch Bidens Bestreben, Instanzen zu schaffen, die verhindern sollen, dass wie einst im Rust Belt nach dem China-Schock ganze Regionen pleitegehen und etliche Leute sozial abstürzen. Stichwort: Industriepolitik. Nach Urlehre der Reagan-Vordenker ebenfalls ein Unding.
Es gab in den USA Zeiten, in denen jeder zusätzliche Dollar bei extrem hohen Einkommen mit bis zu 90 Prozent Steuern belegt wurde
Wie sehr all dies Teil einer Abkehr von den Reaganomics ist, hat Janet Yellen spürbar werden lassen, indem sie jetzt deklarierte, dass die USA die Steuern für Unternehmen anheben und sich auch für eine internationale Mindestbesteuerung einsetzen werden – um jenen Steuerwettbewerb und die etlichen Steueroasen zu stoppen, die wie kaum etwas das entglittene konservativ-liberale Dogma vom heiligen Wettbewerb spiegelten.
Noch ist offen, ob all das so durchkommt – und wie viele Kompromisse Joe Biden mit jenen in der eigenen Partei noch eingehen muss, die sich gegen den Wandel (noch) sträuben. Auch dürften selbst die gewaltigen Summen nicht reichen, um etwa Amerika wieder so wenig ungleich werden zu lassen, wie es das in der Nachkriegszeit lange war – bevor die Reaganomics kamen. Da geht es ja auch nicht nur um Staatsgeld, sondern auch darum, etwa die Finanzmärkte besser zu bändigen. Es gab in den USA Zeiten, in denen jeder zusätzliche Dollar bei extrem hohen Einkommen mit bis zu 90 Prozent Steuern belegt wurde (ohne dass der Kommunismus ausbrach oder die Welt unterging).
Trotz dieser Einschränkungen, so vermutet auch der Bloomberg-Kolumnist Noah Smith, ließen Grundtenor, Umfang und Geschwindigkeit von Bidens wirtschaftlichen Vorstellungen stark vermuten, »dass wir ein neues Paradigma begonnen haben« – eine Ära, die so weitreichend wirken könnte wie die, für die Reagan und Thatcher einst standen. Nur halt eine, die für Menschen, Klima und Wirtschaft womöglich viel besser endet, weil sie den historischen Unsinn eines Mantras korrigiert, das allzu staatsneurotisch und einseitig auf ohnehin Privilegierte angelegt war. Bidenomics halt. Als Ersatz für Reaganomics.
Vielleicht wird das dann bald auch bei uns zum Standard guter Politik.