Gutachten gegen die Ministerin Klöckners Berater fordern Agrarwende

Unangenehme Lektüre für Julia Klöckner: In zwei neuen Gutachten rechnen die Wissenschaftlichen Beiräte der Landwirtschaftsministerin mit der bisherigen Agrarpolitik ab - und stellen sich damit gegen die Regierung.
Julia Klöckner

Julia Klöckner

Foto: Thomas Frey/ dpa

Wie wichtig vielen Deutschen Tierhaltung und Ernährung sind, ließ sich Anfang des Jahres in Berlin beobachten: Mehr als 30.000 Menschen demonstrierten dort für eine bessere Landwirtschaft - dreimal mehr als noch im Vorjahr.

Pünktlich zur Grünen Woche, der Leistungsschau der Agrarindustrie, trommelten rund 100 Organisationen zur Kundgebung "Wir haben es satt". In einem kilometerlangen Konvoi aus Treckern tuckerten Biobauern aus ganz Deutschland durch die Hauptstadt; gleichgesinnte Bürger lärmten dazu auf Kochtöpfen und ließen Schmetterlinge und Bienen aus Pappmaché aufsteigen.

An diesem Montag, mehr als vier Monate später, folgt so etwas wie die wissenschaftliche Antwort auf viele Forderungen der Demonstranten. Die Wissenschaftlichen Beiräte für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE) sowie für Biodiversität und Genetische Ressourcen übergeben zwei dicke Gutachten an Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU). Allein das Papier der 19 Top-Agrarexperten hat 93 Seiten. Doch auf Klöckners Wunsch hin geschieht das hinter verschlossenen Türen und ohne Kameras.

Die Gutachten der Beiräte bergen Sprengstoff. Es geht um die Verteilung der 365 Milliarden Euro, mit denen Europas Steuerzahler die Landwirtschaft künftig unterstützen sollen. Vergangene Woche hat die EU-Kommission Vorschläge für die Förderperiode bis 2028 vorgelegt. Demnach sollen die sogenannten Direktzahlungen weiterhin den größten Anteil des Budgets verschlingen: Gelder, die Landwirte pro Hektar Boden bekommen - ganz egal, ob darauf mit Glyphosat behandelter Mais angebaut oder Paprika pestizidfrei gezüchtet wird.

Die Kommission habe "wichtige deutsche Anliegen berücksichtigt", lobte Klöckner eilfertig. Auch Deutschland sehe die Direktzahlungen "als wesentliches Instrument der Einkommenssicherung" der Landwirte an.

Nutztiere leiden im Stall, Insekten und Vögel sterben

Deutschlands Agrarökonomen im WBAE sehen das freilich völlig anders. Sie empfehlen im Gegenteil, die Direktzahlungen sukzessive ganz abzuschaffen. Statt dass weiterhin demjenigen, der hat, gegeben wird, soll künftig der, der etwas für die Allgemeinheit leistet, belohnt werden - das ist die Quintessenz ihres Papiers mit dem Titel "Für eine gemeinwohlorientierte Gemeinsame Agrarpolitik der EU nach 2020". Die bisherige EU-Politik verfehle dramatisch ihre Ziele, urteilen die Experten. Nutztiere leiden unsichtbar im Stall, Insekten und Vögel sterben einen leisen Tod, und der Klimaschutz findet vor allem auf dem Papier statt.

"2005 hat die EU einen Teil der Direktzahlungen erstmals nicht mit der Armut der Bauern, sondern mit Umweltzielen gerechtfertigt", sagt Professor Harald Grethe, Vorsitzender des WBAE. Die Zahlungen wurden an sogenannte Greening-Auflagen geknüpft. Vernichtendes Urteil der 19 Gutachter: Das Greening war "unter Umweltgesichtspunkten weitgehend wirkungslos". Heute rechtfertigen Klöckner und die EU-Kommission die Direktzahlungen erneut mit den angeblich darbenden Landwirten. "Den Beweis bleibt die Politik schuldig", sagt Grethe.

Während jeder Hartz-IV-Empfänger sich bis aufs Hemd ausziehen müsse, um seine Bedürftigkeit nachzuweisen, genüge beim Landwirt die Angabe seiner Hektar. "Jeder Chefarzt, der nebenbei zehn Hektar Land bestellt", sagt Grethe, "bekommt dafür rund 3000 Euro pro Jahr aus Brüssel." Kleine Betriebe könnten aber entgegen landläufiger Meinung genauso umweltfeindlich arbeiten wie große; große dagegen umgekehrt echte Bilderbuchbauern sein.

EU-Landwirtschaftskommissar Phil Hogan will die umstrittenen Direktzahlungen nun einfach bei 100.000 Euro kappen - ein Vorschlag, den Klöckner vehement ablehnt. Grethe, Professor für Internationalen Agrarhandel an der Humboldt-Universität in Berlin, ist auch gegen die Kappung, doch er hat dafür andere Gründe als die CDU-Frau. Die Einkommen von Landwirten sollten seiner Meinung nach nicht durch die Agrarpolitik geregelt werden - und EU-Agrargelder hingegen nur für echte Leistungen fließen. Für Maßnahmen etwa, die dem Verbraucher eine niedrige Wasserrechnung und saubere Badeseen bescheren.

Für diese Ziele könnte die Landwirtschaftsministerin schon heute deutlich mehr tun, finden ihre Berater. Von den rund fünf Milliarden Euro Direktzahlungen aus Brüssel, die hiesige Landwirte für ihre Flächen erhalten, darf Klöckners Ressort freihändig bis zu 15 Prozent für andere Zwecke umverteilen, etwa für die Förderung des Tierwohls.

Wenn Ministerin Klöckner wollte, könnte sie also noch zusätzlich 530 Millionen Euro dafür ausgeben, dass Schweineschwänze nicht mehr kupiert und Rinder auf Stroh gehalten werden. Dann aber müsste sie sich mit denjenigen anlegen, die stets mit am Tisch sitzen, wenn es in Berlin um Landwirtschaft geht: die Bauernverbandsfunktionäre. "Der Gestaltungswille der Bundespolitik ist gering", sagt Grethe, "wenn es um eine Agrar- und Ernährungspolitik für die Mitte der Gesellschaft geht."

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