Henrik Müller

Reform des Kapitalismus Wie Staat und Wirtschaft die Bürger glücklicher machen könnten

Henrik Müller
Eine Kolumne von Henrik Müller
Im Wahljahr 2021 dürfte der Streit um unser Wirtschaftssystem heftiger werden. Braucht es mehr Staat und weniger Markt – oder umgekehrt?
Einkaufsstraße in Stuttgart (aus der Vor-Corona-Zeit)

Einkaufsstraße in Stuttgart (aus der Vor-Corona-Zeit)

Foto: Marijan Murat/ dpa

Die Bundesbürger treiben derzeit vor allem zwei Sorgen um: der Klimawandel und die Wirtschaft. Jeweils ein Viertel der Deutschen hält diese beiden Themen für besonders drängend, wie Umfragen zeigen .

Klima und Wirtschaft – das klingt wie die Agenda einer künftigen schwarz-grünen Bundesregierung. Tatsächlich könnte es nach der Bundestagswahl im Herbst erstmals so weit kommen. Ein Söder-Habeck-Merz-Baerbock-Spahn-Hofreiter-Röttgen-etceterapepe-Bündnis könnte die Regierungsgeschäfte übernehmen und neue Akzente setzen. Es wäre das größte heute absehbare Wirtschaftsereignis des noch jungen Jahres. (Viele weitere, bislang unabsehbare Ereignisse werden kommen, soviel ist sicher.)

Nebenbei geht es auch um die Frage, wie das Wirtschaftssystem künftig aussehen soll. Die Debatte darüber ist schon gegen Ende des vergangenen Jahres warmgelaufen. Und je nachdem, welche Protagonisten die Union künftig anführen werden, könnte sie zu einem bestimmenden Thema des Wahlkampfs werden.

Es geht um grundlegende Fragen: Muss das »unglaubliche Schwungrad des Kapitalismus und der Finanzmärkte« gebremst werden, wie CDU-Senior Wolfgang Schäuble kürzlich gefordert hat? Sollten die Entfaltung des Unternehmertums und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum der Bemühungen stehen, wie der CDU-Vorsitzkandidat Friedrich Merz gern betont? Braucht es Hunderte Milliarden Euro schwere Staatsprogramme für den »sozial-ökologischen« Umbau der Wirtschaft, um die Wirtschaft »vom Kopf auf die Füße zu stellen« (Grünenvorfrau Annalena Baerbock)? Muss Deutschland die Kreditfinanzierung rasch zurückfahren und schon bald wieder zur »Schuldenbremse« zurückkehren?

Kurz: Braucht es mehr Staat und weniger Markt – oder umgekehrt? Oder sollte es womöglich um ganz andere Fragen gehen?

Verunsicherung, Aggression, Egoismus

Am Ende des Corona-Jahres 2020 offenbarte sich in Umfragen ein tiefes Sicherheitsbedürfnis: Dreiviertel der Befragten machten sich Sorgen um den Zustand der Wirtschaft. Zwei Drittel befürchten, der Klimawandel sei nicht mehr aufzuhalten. Viele sind der Meinung, die Globalisierung sei zu weit gegangen. Mehrheiten erleben ein verschlechtertes gesellschaftliches Klima, das geprägt ist von Verunsicherung, Aggression, Ungeduld und Egoismus. So zeigte es eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach für den Versicherungsverband GDV unter 30- bis 59-jährigen Bundesbürgern.

Klar, nach der Pandemie könnten Goldene 2020er anbrechen. Doch bislang sind die meisten Bürger nicht davon überzeugt. Noch sind die Zukunftserwartungen von Düsternis umwölkt.

Die Pandemie hat dem Staat eine machtvolle Rolle zugewiesen. Nationale und internationale Institutionen sind keineswegs unfehlbar – im Gegenteil –, aber unverzichtbar. Überlebenswichtig. Große Mehrheiten der Bundesbürger sind mit dem Kurs der Regierenden einverstanden, auch mit den massiven Einschränkungen der Freiheitsrechte in den Shutdown-Phasen.

Nach einer solchen Ausnahmeerfahrung liegt es nahe, dass der Staat auch in der Wirtschaft stärker mitmischt. Tatsächlich wäre es überraschend, wenn es anders käme.

Es ist nur so: Am Ende geht es um Effizienz. Am Ende wird die Wirtschaftspolitik nicht an ideologischen Willensbekundungen gemessen, sondern daran, ob sie in der Lage ist, kollektive Bedürfnisse zu niedrigen Kosten zu erfüllen.

Hier sind vier Thesen für eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik.

1.     Mikro statt Makro

Seit der Finanzkrise 2008 war der wirtschaftspolitische Kurs auf makroökonomische Instrumente fokussiert. Im Zentrum stand die Frage, wie weit die Notenbanken die Zinsen senken und ihre Bilanzen aufblähen sollten und wie hoch die Verschuldung der öffentlichen Haushalte sein dürfe. Das Resultat ist eine Art Super-Keynesianismus, der mit immer stärkeren Stimuli das System am Laufen gehalten hat.

Diese Ära dürfte zu Ende gehen, da bei bereits extrem niedrigen Zinsen und hohen Schuldenständen die stimulierende Wirkung nachlässt. Ins Zentrum der Wirtschaftspolitik sollten stattdessen strukturelle Projekte rücken: Wie lassen sich Märkte so ordnen, dass sie die großen gesellschaftlichen Herausforderungen Demografie, Digitalisierung und Klimawandel zu lösen helfen? Und da gibt es eine ganze Menge zu tun.

2.     Alles auf Arbeit

Die deutsche Wirtschaft ist im vergangenen Jahrzehnt auch deshalb ordentlich gewachsen, weil die Beschäftigung immer weiter stieg. Dieses Entwicklungsmuster wird sich so nicht fortsetzen lassen – wegen der schrumpfenden heimischen Erwerbsbevölkerung und wegen der abflauenden Zuwanderung aus dem Ausland. Umso mehr sollte es jetzt darum gehen, die Produktivität und die Leistungsfreude anzuregen. Um Arbeit und Fortbildung attraktiver zu machen, sollten vor allem Mittel- und Geringverdiener entlastet werden. Bislang ist die Belastung dieser Einkommensgruppen mit Steuern, vor allem aber mit Sozialabgaben, entmutigend hoch. Durchschnittsverdiener und ihre Arbeitgeber müssen von jedem zusätzlich verdienten Euro 60 Cent an den Staat abgeben. Für Paare mit Kindern ist die Belastung zwar etwas niedriger, aber auch ihnen werden bei steigenden Löhnen mehr als 50 Prozent abgezogen. Eine Leistungs- und Aufstiegsbremse.

Hinzu kommt: Immer mehr Bürger werden von den empfindlich abgesenkten Rentenniveaus betroffen sein. Statt unsystematisch einzelne ältere Bevölkerungsgruppen besserzustellen – wie in den vergangenen Jahren bei der »Rente mit 64« oder der »Mütterrente« geschehen –, sollte es nun darum gehen, einen späten Eintritt in den Ruhestand attraktiver zu machen. Wer bis 70 oder darüber hinaus erwerbstätig sein kann und will – und seinen Renteneintritt hinausschieben möchte –, sollte die Möglichkeit dazu bekommen.

3.     Privates Kapital für öffentliche Aufgaben

Für den ökologischen Umbau der Wirtschaft sind nicht unbedingt gigantische staatliche Ausgabenprogramme nötig – sondern Rahmenbedingungen, die Investoren anlocken. Schließlich herrscht an privatem Kapital wahrlich kein Mangel, wie sich an den extrem niedrigen Zinsen zeigt.

Kein Wunder, schon seit Mitte der Nullerjahre sind die privaten Sparquoten in vielen Ländern gestiegen. Die demografische Entwicklung vor Augen, legen große Jahrgänge von Bürgern mittleren Alters mehr für den Ruhestand zurück. Im Zuge der Coronakrise sind die Sparquoten noch mal sprunghaft gestiegen.

In der Summe ergibt sich ein enormes weltweites Kapitalangebot. Da die demografischen Trends in entwickelten Volkswirtschaften und Schwellenländern ähnlich – wenn auch zeitlich versetzt – verlaufen, sind die steigenden Sparquoten ein globales Phänomen, genauso wie niedrige Zinsen.

Eigentlich ist das eine tolle Sache – wenn es genügend Unternehmen gäbe, die mit diesen Geldern Produktives anzufangen wüssten. Aber das ist nicht der Fall.

Die Schlüssel zur Normalisierung der Kapitalmarktbedingungen halten deshalb nicht nur die Notenbanken, sondern mehr noch Wirtschaft und Politik in den Händen. Es braucht Entrepreneure und Konzerne, die bereit und fähig sind, das große Kapitalangebot für wohlstandssteigernde Projekte zu nutzen. Etwa für den Ausbau der Stromnetze oder den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur. Und es braucht einen staatlichen Ordnungsrahmen, der die Bedingungen dafür schafft, dass privates Kapital in ebendiese Projekte fließen kann.

4.     Regulierer gesucht

Der Staat wird künftig nicht nur als Umverteiler, sondern vor allem als Regulierer gefordert sein. Es sollte nicht nur darum gehen, Steuern ein- und Schulden aufzunehmen und damit Geld zwischen sozialen Gruppen und Generationen hin- und herzuschieben, sondern darum, neue Formen des Marktversagens zu bekämpfen.

Zum Beispiel: Viele Produkte verlieren ihren Preis. Dies ist eine Folge der Digitalisierung, aber auch des Übergangs zu erneuerbaren Energien. Die Kosten der Produktion einer zusätzlichen Kilowattstunde Strom aus Wind- oder Sonnenenergie sind nahe null. Auch bei den Medien führt die Digitalisierung zu Verwerfungen. (Diese Kolumne beispielsweise können Sie lesen, ohne etwas dafür zu bezahlen, weil die Weiterverbreitung eines einmal geschriebenen Beitrags nichts kostet.)

Entsprechend sinkt der Preis auf unregulierten wettbewerbsintensiven Märkten gegen null. Was ein Problem ist, denn ohne Erlöse wird es kein Angebot geben – niemand wird unter diesen Bedingungen in Erneuerbare investieren oder unabhängigen Journalismus finanzieren. Damit ist der Staat im Spiel: Hält man diese Güter aus übergeordneten Gründen für wünschenswert, dann müssen die Märkte so organisiert werden, dass ein Angebot entstehen kann und sich Innovationen lohnen.

Zum Beispiel: Die Digitalisierung begünstigt sehr große Unternehmenseinheiten, die über erdrückende Marktmacht verfügen. Amazon dominiert große Teile des Einzelhandels, Google das Suchmaschinengeschäft, Facebook die westlichen Social-Media-Räume. Sowohl die EU-Kommission als auch der US-Kongress haben sich vorgenommen, diese Dominanz einzuhegen, wenn auch mit ziemlich unterschiedlichen Ansätzen. Die Wettbewerbspolitik, die in den vergangenen Jahrzehnten vergleichsweise passiv und reaktiv agierte, wird zu einem entscheidenden Politikfeld.

Leitbild: Smarter Staat

Die ideologische Frage, ob es mehr oder weniger Staat braucht, mag im Wahljahr 2021 laut und prominent die Debatten durchziehen. Doch in Deutschland herrscht weder wild gewordener Turbokapitalismus noch Sozialismus, wie die Staatsquote zeigt, die bei rund der Hälfte des Sozialprodukts liegt. Es sollte auch nicht pauschal um Deregulierung oder Bürokratieabbau gehen, sondern um smarte Regulierung – um Freiräume, wo möglich, und um Unterstützung, wo nötig.

Letztlich geht es um das kluge Design von Märkten – damit knappe Ressourcen vernünftig eingesetzt werden und Fortschritt möglich bleibt.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der bevorstehenden Woche

Berlin – School’s out – wie lange noch? – Die Kultusminister der Länder beraten über darüber, wann und wie die Schulen nach den Weihnachtsferien wieder unterrichten sollen.

Wien – Öl-Dealer – Die zuständigen Minister des Öl-Kartells Opec treffen sich mit ihren Kooperationspartnern (darunter Russland) zur Online-Konferenz, um über die angestrebten Fördermengen zu beraten.

Paris – Mega-Fusion – Hauptversammlung des französischen Autoherstellers PSA (Peugeot, Citroen, Opel), der mit sich durch den Zusammenschluss mit Fiat Chrysler zum Automulti vergrößern will.

 

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