Neue Reichtumsdebatte Etwas ist faul im Kapitalismus

Menschen in der Innenstadt: Kapitalismus macht Aufstieg fast unmöglich
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Welcher Autor kann auf so eine illustre Leserschar verweisen: US-Präsident Barack Obama, Papst Franziskus, Nobelpreisträger Paul Krugman und IWF-Chefin Christine Lagarde?
Das globale Kunststück gelang einem eher unscheinbaren Ökonomen, der Englisch mit französischem Akzent spricht - und sich jahrelang über scheinbar langweilige Einkommensstatistiken aus den vergangenen drei Jahrhunderten gebeugt hat. Thomas Piketty, 42, Professor an der Paris School of Economics, hat aber aus dem trockenen Zahlenwerk eine eingängige Botschaft gezimmert, die derzeit in der ganzen Welt Resonanz findet. Sie lautet: Etwas ist faul im kapitalistischen System - und die Symptome werden immer schlimmer, weil Krisenzeiten einseitig die Habenden begünstigen.
Wachse die Wirtschaft nämlich langsam, so Piketty, steige die Ungleichheit in einer Gesellschaft, da Vermögen anders als Löhne unentwegt weiter wüchsen. Die Reichen hängen also die Mittelklasse gerade in Krisenzeiten, die derzeit fast alle Industrieländer durchmachen, schlichtweg ab.
Der 696-Seiten-Schmöker, in dem Piketty seine Erkenntnisse vorstellt, heißt "Das Kapital im 21. Jahrhundert" - eine unverhohlene Anspielung auf das Standardwerk von Karl Marx zur kapitalistischen Verteilungsfrage. Das Buch sorgt aber nicht allein aufgrund des provokanten Titels für Aufregung. Zum ersten Mal präsentiert ein Ökonom umfassende Belege für die Aussage "Wer hat, dem wird gegeben".
Schrumpfende Mittelklasse
Durchschnittlich lag das Wirtschaftswachstum Pikettys Daten zufolge nämlich in den vergangenen 300 Jahren inflationsbereinigt bei einem bis eineinhalb Prozent jährlich. Vermögen stiegen dagegen um vier bis fünf Prozent vor Steuern. Wer schon wohlhabend ist, kann sein Vermögen offenbar breit anlegen und so überdurchschnittlich steigern. Weil Vermögen zudem meist an die eigenen Kinder vererbt werden, pflanzt sich die Ungleichheit über Generationen fort.
Diese wissenschaftliche Untermauerung des weltweiten Unwohlseins mit dem Turbokapitalismus bringt Piketty viel Beifall ein: US-Linke preisen ihn als modernen "Marxisten fürs neue Jahrtausend" ("Nation"), Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman lobte sein Buch als wegweisend. Präsident Obama nutzte seine Audienz bei Papst Franziskus im März zu einer ausführlichen Debatte über die wachsende soziale Ungleichheit, die Piketty beschreibt.
Selbst bei der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF), einst eine Bastion des globalen Kapitalismus, standen dessen Gedanken auf der Tagesordnung. "Einkommensungleichheit ist in den letzten Jahrzehnten sowohl in der entwickelten Welt wie in den Entwicklungsländern angestiegen", hieß es in einem IWF-Thesenpapier . Das Ergebnis: Sind die Vermögen in einer Gesellschaft relativ gleichmäßig verteilt, ist auch das Wachstum schneller und nachhaltiger. Für den IWF erstaunlich ist auch die Erkenntnis, dass Umverteilung durch Steuern dem Wachstum gar nicht schadet.
Tatsächlich lassen sich die von Piketty beschriebenen Symptome genau beziffern: 1978 verdiente der typische amerikanische Arbeitnehmer 48.078 Dollar brutto im Jahr, das oberste Prozent der Gesellschaft erhielt im Schnitt 390.000 Dollar. Heute bekommt der Arbeiter nur noch 33.000 Dollar, die Top-Verdiener dagegen 1,1 Millionen. Die 400 reichsten Amerikaner besitzen so viel wie die 150 Millionen Bürger ganz unten zusammen. Die US-Mittelschicht hat soeben ihren Spitzenrang als Bestverdiener weltweit verloren.
Radikale Rezepte
Auch die Europäische Union zerfällt derzeit in nördliche Boomstaaten mit geringer Arbeitslosigkeit und Krisenländer im Süden des Kontinents, wo teils bis zu 50 Prozent aller jungen Leute keinen Arbeitsplatz haben.
In Deutschland ist die Einkommensungleichheit im internationalen Vergleich moderat. Anders sieht es jedoch bei Vermögen aus: "In keinem Euro-Land ist der Reichtum so ungerecht verteilt wie hierzulande", sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Hier müsste der Staat eigentlich eingreifen."
Aber welche Maßnahmen helfen? Laut Piketty ändern beliebte Rezepte wie höhere Bildungsinvestitionen oder der Verzicht auf Wirtschaftswachstum wenig. Effektiv seien nur radikale Maßnahmen: erstens eine Vermögensteuer, die bei einem Vermögen von 200.000 Euro mit einem Prozent jährlich beginnt, bei mehr als eine Million Euro auf zwei Prozent steigt und bei Milliardenvermögen auch bis zu zehn Prozent betragen kann. Zweitens eine Einkommensteuer von bis zu 80 Prozent für Spitzenverdiener. Das klingt schockierend, doch in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg lag dort der höchste Steuersatz nie unter 70 Prozent.
Käme es dazu wieder, müsste wohl auch Autor Piketty viel zahlen. Denn für den Kapitalismuskritiker funktioniert das kapitalistische System derzeit bestens: Sein Buch steht auf Platz 1 der Amazon-Bestellerliste in den USA.