Deutschlandkarte Wo die meisten armen Kinder wohnen

Junge in Plattenbausiedlung in Frankfurt (Oder): Kinderarmut im Osten höher
Foto: Patrick Pleul/ picture alliance / dpaHamburg - 185 Seiten und kein einziges Mal taucht das Wort Kinderarmut auf. Liest man den frisch gedruckten Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, könnte man schnell folgern: In Deutschland gibt es keine armen Kinder. Warum sonst sollte die schwarz-rote Koalition nichts dagegen unternehmen? "Armut ist in einem reichen Land wie Deutschland relativ", gab Ursula von der Leyen (CDU) denn auch vor einiger Zeit zum Besten.
Die Ex-Sozialministerin findet sich mit ihrer Haltung in guter Gesellschaft. Kritiker renommierter Institute bezweifeln, dass automatisch arm ist, wer weniger Geld als der Schnitt der Bevölkerung hat. Denn nach gängiger wissenschaftlicher Definition sind 18,9 Prozent oder 2,4 Millionen der Kinder und Jugendlichen in Deutschland von Armut bedroht, weil sie oder ihre Eltern über weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Nettoeinkommens verfügen. Für ein Elternpaar mit einem Kind unter 14 Jahren wären das demnach 1564 Euro. Ein geringes Einkommen sei aber nicht gleichbedeutend mit großer Not oder gravierenden Defiziten bei sozialer und materieller Teilhabe, so die Argumentation der Kritiker.
Wie Kinderarmut in Deutschland tatsächlich aussieht, haben die Forscher Eric Seils und Helge Baumann vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI ) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Ihre Studie, die SPIEGEL ONLINE exklusiv vorliegt, offenbart, mit welchen materiellen Entbehrungen die relative Einkommensarmut in Deutschland für Kinder verbunden ist. Außerdem liefern Seils und Baumann erstmals differenzierte Daten zur Kinderarmut in den 39 deutschen Regierungsbezirken.
Klicken Sie auf die Karte, um zu erfahren, in welchen Regierungsbezirken die meisten Kinder armutsgefährdet (Armutsgefährdungsquote) sind.
Die Ergebnisse der Studie im Überblick:
- Mit 26,3 Prozent ist die Kinderarmut in Ostdeutschland deutlich höher als im Westen . Dort gelten 17,4 Prozent der Kinder als armutsgefährdet. Allerdings haben sich die Quoten zwischen beiden Landesteilen seit 2005 deutlich angenähert.
- Am höchsten ist der Anteil von Armut bedrohter Kinder in Bremen (33,7 Prozent), dicht gefolgt von Mecklenburg-Vorpommern (33,5 Prozent).
- Die niedrigste Kinderarmutsquote findet sich in der Oberpfalz (9,9 Prozent). Auch andere Regionen von Bayern und Baden-Württemberg sind vergleichsweise wenig von Kinderarmut betroffen.
- Die Quoten in weiten Teilen Nordrhein-Westfalens fallen überdurchschnittlich hoch aus - mit steigender Tendenz.
- In absoluten Zahlen leben die meisten armen Kinder in den Regierungsbezirken Düsseldorf (186.000), Köln (145.000), Arnsberg (143.000) und Berlin (136.000).
Heißt einkommensschwach denn nun auch wirklich arm? In vielen Fällen sei das so, meinen die Forscher Seils und Baumann. Zahlreiche Kinder in einkommensarmen Familien müssten mit beträchtlichen materiellen Einschränkungen leben - deutlich häufiger als Altersgenossen, die über der Armutsschwelle aufwachsen. Dies gilt in besonderer Weise für den Osten.
Das bedeutet konkret: Für rund 70 Prozent aller armutsgefährdeten Kinder gibt es keine Urlaubsreisen. Jedes elfte arme Kind in West- und jedes siebte in Ostdeutschland lebt in einer Wohnung mit feuchten Wänden. Knapp zehn Prozent im Westen fehlt Winterkleidung, in Ostdeutschland gilt das sogar für zwölf Prozent der armutsgefährdeten Kinder. (Die komplette Auflistung finden Sie hier.)
Die Einkommensarmut wirke wie eine zu kurze Decke, sagt WSI-Forscher Seils. "Leistet sich der Haushalt eine Sache, dann reicht es an anderer Stelle nicht." Häufig sind Kinder von Alleinerziehenden und Migranten oder größeren Familien betroffen.
Mehr als 200 Milliarden Euro gibt Deutschland für die Familienpolitik aus - und trotzdem gibt es arme Kinder in Deutschland. Wie kann das sein? Nach Meinung von Experten werden die Milliarden ungerecht eingesetzt. Etwa beim Kindergeld. Denn egal, ob man Millionär oder Aufstocker ist, immer gibt es dieselbe Summe.
WSI-Forscher Seils sieht dagegen in erster Linie die Wirtschaft in der Pflicht: Um Kinderarmut im reichen Deutschland einzudämmen, sei es zwingend, im unteren Lohnsegment deutlich höhere Löhne zu zahlen. Denn was real bei den Eltern ankomme, gehe direkt weiter zu den Kindern.