EU-Klimapläne "Atom-Renaissance durch die Hintertür"

Oettinger, Barroso, Hedegaard: Briten-Premier Cameron verbucht mit dem EU-Klimaziel einen Triumph
Foto: GEORGES GOBET/ AFP936 akkreditierte Korrespondenten gibt es in Brüssel, Tausende Lobbyisten, einmütig wie selten scheinen am Mittwoch beide Gruppen versammelt, so dicht gefüllt ist der Sitzungssaal der EU-Kommission.
Auch auf dessen Bühne ist es voll, gleich drei Mitglieder der EU-Kommission haben sich dort aufgestellt, ihr Präsident José Manuel Barroso, die Umweltbeauftragte Connie Hedegaard und der deutsche Energiekommissar Günther Oettinger.
Doch zu besprechen gibt es zwischen all diesen Menschen und vor diesem geballten Publikum nur ein mageres konkretes Ziel: Die Kommission will den Kohlendioxid-Ausstoß europaweit künftig um 40 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 beschränken.
Eine feste Zielvorgabe für den Anteil erneuerbarer Energien? Fehlanzeige. Zwar soll der bis zum Jahr 2030 auf 27 Prozent steigen - doch wird diese Vorgabe nur noch für die EU als Ganzes gelten, konkrete Anweisungen für die einzelnen Mitgliedstaaten entfallen. Auch in puncto Energieeffizienz schrecken die Brüsseler Beamten zumindest vorläufig vor ehrgeizigen Plänen zurück. Dabei belegt eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die SPIEGEL ONLINE vorliegt, wie gut Investitionen in mehr Effizienz angelegt sind.
Aus einem weltweit vernehmbaren Dreiklang - für das Stichjahr 2020 hatten die Europäer sich vor sieben Jahren noch auf 20 Prozent mehr erneuerbare Energie, 20 Prozent weniger Treibhausgase und um 20 Prozent effizienteren Energieverbrauch verpflichtet - ist ein ziemlich leiser Einklang geworden.
Und statt "die Welt in eine neue, nach-industrielle Revolution zu führen" (Barroso 2007), überwiegt nun das Lavieren zwischen grünen Ambitionen und Industrieinteressen, zwischen ehrgeizigen Klimazielen und Bezahlbarkeit. Beides schließe sich ja nicht aus, wenn man es "smart" anfasse, doziert Barroso. Dazu gehöre aber auch: aus Fehlern zu lernen und etwa bei erneuerbaren Energien Mitgliedstaaten mehr Spielraum zu lassen.
"Bravo" ruft jemand im Saal bei diesen Worten, es klingt sarkastisch. Vor dem Kommissionsgebäude haben sich Umweltschützer in ein winziges Rettungsboot gepfercht und skandieren, die EU-Klimapolitik sei auf hoher See verlorengegangen.
Berlins Lobby-Taktik nutzt Großbritannien
Etwas verloren dürfte auch die Bundesregierung nach der Ankündigung aus Brüssel sein. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) warb seit Wochen offensiv für klare Zielvorgaben bei erneuerbaren Energien. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) hat noch am Mittwoch vor einer "Atom-Renaissance durch die Hintertür" gewarnt. Nun dürfen beide zwar weiter den Anteil von Öko-Strom in Deutschland weiter hochschrauben, bis zu 45 Prozent sind bis zum Jahr 2025 angepeilt. Doch Umweltschützer fürchten, dass wichtige Investitionen in diese Zukunftstechnologien künftig europaweit lahmen - und kritisieren Berlins Lobby-Taktik.
Greenpeace-Expertin Franziska Achterberg sagt: "Die Deutschen haben dem britischen Pro-Atomkurs zu wenig entgegengesetzt." Tatsächlich nutzten die Briten geschickt die deutsche Lähmung während der Koalitionsverhandlungen - und Unentschlossenheit in Paris, wo Präsident François Hollande zwar weniger Atomstrom versprach, aber beim "Wie" weiter laviert.
Regierungschef David Cameron formulierte hingegen entschlossen seine Wünsche an Brüssel. Das Energie- und Klimapaket 2030 biete "die Gelegenheit, das existierende Klimaregime von drei Zielen auf eines zu vereinfachen", schrieb er früh an die Kommission.
Mehr Ehrgeiz im Klimaschutz ist kaum zu erwarten
Nun kann der Brite einen fast kompletten Triumph verbuchen: Beim umstrittenen Fracking, einem Lieblingsprojekt der Briten, wird es keine verbindlichen EU-Auflagen geben. Die fehlenden Vorgaben zu erneuerbaren Energien lassen zu, dass Großbritannien zur Erfüllung des CO2-Ziels stärker auf Atomkraft vertraut. Und eine entschlossene Reform des Handels mit Lizenzen für den Ausstoß von Kohlendioxid lässt ebenfalls auf sich warten - was nach Meinung von Umweltgruppen dazu führen könnte, dass aus 40 Prozent europaweiter CO2-Absenkung am Ende nur 33 Prozent werden.
Im März sollen Europas Staats- und Regierungschefs über die Kommissionsvorschläge beraten. Doch mehr Ehrgeiz im Klimaschutz ist von ihnen kaum zu erwarten. Und die EU-Oberen bieten ihnen vorsorglich Ausflüchte, indem sie den Einfluss Europas herunterspielen und den Rest der Welt in die Pflicht nehmen. "Wenn andere Volkswirtschaften ähnliche Vorschläge unterbreiten, wird die Welt ein besserer Ort sein", sagt Kommissarin Hedegaard. Präsident Barroso fügt hinzu: "Selbst wenn wir unsere Emissionen nun auf null Prozent senken würden, würde dies das globale Problem ja nicht lösen."
Der nächste Programmpunkt im Sitzungssaal verrät, wo die Brüsseler Beamten nach rund fünf Jahren Euro-Krise die wahren Probleme sehen. Zur Debatte steht gleich nach dem Klima der Plan einer "industriellen Revolution", der entschlossenen Industrieförderung in allen EU-Mitgliedstaaten.