Müllers Memo Boom + Wahlkampf = Blase

Baustelle in Hamburg
Foto: Daniel Bockwoldt/ picture alliance / dpaIrgendwann begann der legendäre Alan Greenspan, einen virtuous circle zu beschwören. Die Einkommen, die Börsen, die Beschäftigung, die Innovationen, die Staatsfinanzen - alle wirtschaftlichen Kenngrößen zeigten in ein und dieselbe Richtung: aufwärts. Ein sich selbst befeuernder Aufschwung habe die USA erfasst, erklärte der damalige Chef der US-Notenbank Fed, man befinde sich, wie gesagt, in einem virtuous circle, ins Deutsche etwas schräg mit "Engelskreis" übersetzt, dem Gegenteil eines Teufelskreises.
Das war Ende der Neunzigerjahre. Von einer New Economy war die Rede. Der Hype hatte die Hirne im fest im Griff. Internet, Biotech, Mobiltelefonie, ein neues Jahrtausend würde bald beginnen - der Optimismus war grenzenlos.
Wenig später crashten die Börsen. Eine Rezession setzte ein. Auch Engel können fallen.
Einige Jahre danach wähnte der spanische Ministerpräsident José Maria Aznar sein Land auf dem unaufhaltsamen Weg in die erste Liga der Weltwirtschaft. Dass überall im Land Bauprojekte gestartet wurden, die vor allem auf Hoffnung, nicht aber auf realistischen Bedarfen gegründet waren, ignorierte er. Den aufgeblähten spanischen Bausektor, damals so groß wie die Baubranchen Frankreichs und Italiens zusammen, deutete Aznar nicht etwa als Problem, sondern als Zeichen der Stärke und des Vertrauens.
Wenige Jahre später platzte die Immobilienblase. Spanien versank über Jahre in einer tiefen Rezession, deren Folgen das Land bis heute nicht überwunden hat.
Die Wirtschaft überhitzt - niemand tritt auf die Bremse
Boomzeiten haben ihre eigene politökonomische Dynamik. Eine Zeit lang scheint alles gut. Dann artet die Party zum ausschweifenden Fest aus. Immer weitere Kreise profitieren vom Wachstum. Logisch, dass niemand der Stimmungstöter sein möchte - derjenige, der die Musik leiser und das Licht heller dreht.
Jetzt also Deutschland?
Die Bundesrepublik erlebt derzeit einen phänomenalen Boom. Die Beschäftigung, die Staatseinnahmen, der Export, die Stimmung der Unternehmen, wie sie das Ifo-Institut monatlich misst - alles auf Rekordhöhe. Die Immobilienpreise steigen rasant, in den großen Städten, zunehmend aber auch in manch ländlicher Region. Der Bausektor expandiert.
Konjunkturforscher sind sich weitgehend einig: Deutschlands Produktionskapazitäten arbeiten bereits seit einiger Zeit jenseits normaler Auslastungsgrade. Die Schätzungen über den Grad der Überauslastung gehen zwar auseinander; die Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute beispielsweise ist vorsichtiger als die der OECD - die Mittwoch neue Zahlen vorlegt. Aber alle sagen vorher, dass die deutschen Wirtschaft auf Sicht überhitzt bleiben wird.
Denn es ist niemand da, der bereit ist, die Party zu bremsen.
Entsprechend steigt das Risiko einer heftigen Rezession, wenn der Boom irgendwann vorbei ist. Klar, bis es so weit ist, können noch Jahre vergehen. Aber das macht die Sache nicht ungefährlicher. Denn je länger der Boom, desto härter der Absturz. Beispiele dafür gab es in den vergangenen dreißig Jahren reichlich.
Stets ist die gleiche Mechanik am Werk: In ausgeprägten Boomphasen verformen sich die Wirtschaftsstrukturen. Überoptimistische Erwartungen stoßen Investitionen an, die sich später als nicht langfristig tragfähig erweisen. Überbewertete Finanz- und Immobilienmärkte machen Bürger und Unternehmen blind für Risiken, was sich rächt, sobald die Bewertungen wieder zurückgehen. Dann kommt der Crash.
Eigentlich wäre es der Job der Notenbank, mit höheren Zinsen gegenzusteuern. Da die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Kurs aber nicht allein an Deutschland, sondern auch an fragileren Volkswirtschaften wie Italien ausrichten muss, stehen Zinserhöhungen noch lange nicht an. Womöglich wird EZB-Chef Mario Draghi nach der Ratssitzung am Donnerstag ankündigen, dass die EZB allmählich ihre Anleihekäufe ("Quantative Easing") zurückzuführen gedenkt. Für deutsche Bedürfnisse wird die Geldpolitik aber noch auf lange Sicht zu locker bleiben.
Gefordert ist deshalb vor allem die Berliner Politik. Doch im beginnenden Wahlkampf scheint keine der Parteien dazu Lust zu haben.
Um größere Risiken für die makroökonomische Stabilität zu vermeiden, sollte die nächste Bundesregierung ihre wirtschaftspolitischen Prioritäten entsprechend ausrichten.
Prinzipiell gibt es zwei Ansatzpunkte:
1. Die Nachfrage dämpfen. Aus binnenwirtschaftlicher Sicht spricht einiges dafür, jetzt die Steuern für Normalverdiener zu erhöhen, um die Konsumausgaben zu dämpfen. Wie bitte? Doch, Sie haben richtig gelesen. Die Steuern für Wohlhabende zu erhöhen (wie es Die Linke fordert), würde stabilitätspolitisch wenig bringen, weil diese Mehrbelastungen kaum deren Konsumlust bremsen werden. Um nicht missverstanden zu werden: Steuererhöhungen für die Mittelschichten in Zeiten von staatlichen Haushaltsüberschüssen sind den Bürgern unmöglich zu vermitteln. Politisch ist diese Idee kaum umsetzbar.
Auch die internationalen Kritiker der gigantischen deutschen Außenwirtschaftsüberschüsse wären auf den Barrikaden; in diesem Punkt sind sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, US-Präsident Donald Trump und der Internationale Währungsfonds ausnahmsweise einig. Sie wollen gerade, dass Deutschland seine Binnennachfrage hochjazzt und mehr importiert. Höhere Steuern für Normalverdiener würden unsere Überschüsse nur noch weiter steigern.
Wenn höhere Steuern politisch unmöglich sind, sollte der Staat es zumindest vermeiden, die Nachfrage noch weiter anzuheizen: Steuersenkungen (wie sie FDP und Union versprechen) sollten in der gegenwärtigen Konstellation genauso tabu sein wie großangelegte Infrastrukturprogramme (wie sie die SPD will). Die kann man sich für den nächsten Abschwung vornehmen. Im Moment würden sie die Überhitzung noch befeuern.
2. Die Produktionskapazitäten erhöhen. Vor allem geht es darum, mehr Leute in Beschäftigung zu bringen und deren Produktivität erhöhen. Da der Mangel an geeigneten Arbeitskräften derzeit der größte Produktionsengpass ist, sollte die nächste Bundesregierung hier einen Schwerpunkt setzen.
Das heißt: intensivere Bemühungen, Langzeitarbeitslose und Unterbeschäftigte in Jobs zu bringen, womöglich auch mit erhöhten Lohnsubventionen.
Das heißt: ein Zuwanderungs- und Integrationsgesetz, das an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts ausgerichtet ist und systematisch kurz- und längerfristigen Engpässen entgegenwirkt (wie es die SPD vorschlägt).
Das heißt aber auch: keine Programme, die ältere Beschäftigte frühzeitig in den Ruhestand locken, wie die Rente mit 63 (auch ein SPD-Projekt). Ältere Beschäftigte sollten so lange wie möglich aktiv bleiben und entsprechende finanzielle Anreize erhalten.
Um längerfristig die Produktivität zu erhöhen, sollte mehr Geld in die Bildung fließen: Von der Grundschule bis zur Hochschule gibt die Bundesrepublik nur 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, deutlich weniger als fast alle vergleichbaren OECD-Länder. Die Mittel für die Förderung von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern könnten aufgestockt werden. Ebenso die Budgets der Unis, die verstärkt berufsbegleitende Programme anbieten könnten, um erfahrenen Beschäftigten fortgeschrittenen Alters ein Wissensupdate zu verpassen.
Auch in der Forschung wäre zusätzliches öffentliches Geld gut angelegt. So ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem jährlichen Fördervolumen von drei Milliarden Euro nicht gerade üppig ausgestattet. Schon relativ geringe Aufstockungen könnten enorme Produktivitätsreserven im Wissenschaftsbetrieb freisetzen, ohne die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (siehe Punkt 1.) spürbar anzuheizen.
Die Aufzählung zeigt: Dies ist keine Liste der Grausamkeiten. Was stabilitätspolitisch sinnvoll ist, kann durchaus sozialpolitisch wünschenswert sein. Gerade Investitionen in Bildung und Zuwanderung könnten den langfristigen Wachstumspfad Deutschlands erhöhen. Dann hätten auch künftige Generationen etwas vom Boom der späten Zehnerjahre.
Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche
MONTAG San José - The next big thing? - Apple lädt zur alljährlichen Entwicklerkonferenz WWDC.
DIENSTAG Stuttgart - Sehr sauber, wirklich - Daimler steht wegen angeblich irreführender Werbung vor Gericht. Geklagt hatte die Deutsche Umwelthilfe.
MITTWOCH Paris - Boom und Wirklichkeit - Die OECD, wirtschaftspolitischer Thinktank der überwiegend reichen westlichen Länder, stellt ihren halbjährlichen Wirtschaftsausblick vor.
Brüssel - Ernstfall - Die EU-Kommission präsentiert Vorschläge zur gemeinsamen Verteidigungspolitik. Das Thema hat durch die Abkehr der neuen US-Führung von Amerikas traditioneller Führungsrolle aktuelle Brisanz bekommen.
DONNERSTAG Tallinn - Warten auf den Einstieg in den Ausstieg - Der EZB-Rat tagt ausnahmsweise in Estland. Anschließend wird EZB-Chef Draghi erläutern, ob, wann und gegebenenfalls wie schnell die EZB aus ihrem Anleihekaufprogramm auszusteigen gedenkt.
London - Zuletzt eine Zitterpartie - Unterhauswahlen in Großbritannien: Premier May war mit großem Vorsprung in den Umfragen gestartet, muss nun aber darum bangen, ob sie am Ende doch eine komfortable Mehrheit zusammenbekommt, die ihr den Rücken bei den Brexit-Verhandlungen stärken würde.
FREITAG Wiesbaden - Am Pranger - Das Statistische Bundesamt legt neue Zahlen zum deutschen Export vor. Deutschlands Wettbewerbsstärke gerät zunehmend in die Kritik, nicht zuletzt durch US-Präsident Trump.
Peking - Inflation süßsauer - Chinas Statistikamt veröffentlicht Inflationszahlen für Mai.
Hannover - Hört die Signale! - Die Linke beginnt ihren Bundesparteitag (bis Sonntag).
SONNTAG Paris - Durchmarsch für Macron? - Bei der ersten Runde der Wahl zur französischen Nationalversammlung wird mit Spannung erwartet, ob des Präsidenten neue Partei La République en marche die Chance auf eine Mehrheit bei der zweiten Runde der Wahl am darauffolgenden Sonntag erringt.