Kostenexplosion im Gesundheitswesen Krankes System mit Knalleffekt
Hamburg - Der 1. Oktober vor zwei Jahren war ein ganz besonderer Montag. Fast zwölf Prozent der Deutschen gingen an diesem Tag zum Arzt - absoluter Rekord, hat die Gmünder Ersatzkasse (GEK) berechnet. In der Regel begnügen sich zu Wochenbeginn acht Prozent der Bevölkerung mit einem Besuch bei Onkel Doktor.
Ab Dienstag sind es dann zwar weniger, doch an einem normalen Werktag nehmen durchschnittlich mehr als fünf Millionen Deutsche in einem Wartezimmer Platz. Das entspricht der Bevölkerung der beiden größten deutschen Städte Berlin und Hamburg.
Im Schnitt ging jeder Deutsche 2007 fast 18 Mal pro Jahr zum Arzt. Also rund alle drei Wochen. In kaum einem anderen Land sind die Zahlen vergleichbar hoch. Besonders auffallend: Gegenüber 2004 stieg die Zahl der Praxenbesuche sogar um mehr als acht Prozent.
Ein Verursacher der Kostensteigerung im Gesundheitswesen ist damit schon mal ausgemacht: die Beitragszahler selbst. Denn der Arztbesuch ist zumeist der Anfang von allem, zieht er doch fast automatisch weitere Kosten nach sich - sei es in der Apotheke, bei Fachärzten oder im Krankenhaus.

"Problematisch ist, dass viele Patienten diese Folgekosten geradezu provozieren", sagt ein Krankenkasseninsider SPIEGEL ONLINE. "Sie gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung zum Doktor." Würde der Arzt kein Rezept ausstellen oder mangels Notwendigkeit eine Überweisung zum Facharzt verweigern, wäre die Enttäuschung entsprechend groß. Weil der Mediziner natürlich will, dass die Patienten wiederkommen (wenn auch am besten erst im nächsten Quartal), verhält er sich rational, wenn er die Wünsche seiner Kunden erfüllt.
Leicht vermeidbare Kosten entstehen auch, weil viele Patienten wegen Wehwehchen zum Arzt gehen, die dann nur einer Pseudo-Behandlung unterzogen werden - nach dem Prinzip: Ohne Medikamente dauert die Erkältung 14 Tage, mit allerdings nur zwei Wochen. Unter Gesundheitsexperten macht deshalb der Spruch die Runde: Ein Land, in dem die Menschen wegen einer Erkältung zum Arzt gehen, bekommt sein Finanzproblem nie in den Griff.
Kosten ließen sich deshalb schon reduzieren, wenn jeder Bürger sein eigenes Verhalten hinterfragen würde. Allerdings gibt es keinen Zweifel daran, dass viele Problemstellen des deutschen Gesundheitssystems bislang jede Reform überlebt haben.
Das Problem: Die einflussreiche Gesundheitslobby von Ärzten, Apothekern, Krankenhausbetreibern und Pharmaindustrie schreckt selten davor zurück, Ängste der Patienten zu schüren. Und vor wenigen Dingen fürchten sich Politiker so sehr wie vor einer Diskussion um die Qualität der Gesundheitsversorgung und vermeintliche Leistungseinschränkungen.
Wo aber ließe sich im Gesundheitssystem Geld sparen - ohne dass die Qualität wirklich leidet? SPIEGEL ONLINE analysiert die größten Ausgabenblöcke der gesetzlichen Krankenkassen - und sagt, wo Milliarden verschwendet werden:
Krankenhäuser - warum werden nicht mehr Betten abgebaut?

Medizinerteam im OP: "A built bed is a filled bed"
Foto: CorbisFast jeden dritten Euro und damit so viel wie für keinen anderen Bereich gaben die gesetzlichen Kassen 2008 für die Behandlung in Krankenhäusern aus - knapp zwei Milliarden Euro mehr als noch 2007. Wer bei den noch immer fast 2100 Krankenhäusern in Deutschland ansetzt, kann also massiv sparen.
Zwar sind viele Kliniken in den vergangenen Jahren effizienter geworden, allerdings gilt in den Bettenburgen noch immer das insgesamt im Gesundheitswesen verbreitete Prinzip: Jedes Angebot sucht sich seine Nachfrage. Im Krankenhaus-Jargon heißt das: "A built bed is a filled bed." Ein Krankenhausbett, das da ist, wird auch mit Patienten gefüllt.
Um dieser Zwangsläufigkeit entgegenzusteuern, wurde in den vergangenen Jahren die Zahl der Betten reduziert - allein zwischen 2006 und 2007 bundesweit um fast 4000 auf rund 507.000. Der Gesetzgeber und die Kassen wollten die Krankenhäuser damit zwingen, weniger stationär zu operieren (also mit einem tagelangen und entsprechend teuren Aufenthalt des Patienten), sondern möglichst viel ambulant. Wenn der Patient nach ein paar Stunden wieder gehen kann, ist es für die Kassen eben günstiger.
Nur wurde da die Rechnung ohne die Kliniken gemacht. Sie nutzen den Anreiz zu mehr ambulanten OPs durchaus - allerdings anders als gedacht. Zwar wurde 2007 doppelt so häufig ambulant operiert wie 2005, doch die Zahl der stationären Aufenthalte stieg im gleichen Zeitraum sogar nochmals leicht an. "Es gibt eine wahnsinnige Ausweitung von Leistungen im Krankenhaus", sagt fast schon resigniert ein Insider einer großen Krankenkasse zu SPIEGEL ONLINE.
Die Zunahme von OPs offenbart ein zweites Problem des deutschen Gesundheitswesens: Hierzulande wird auch dann gern das Skalpell angesetzt, wenn es eigentlich überflüssig ist. So gehen Experten davon aus, dass rund 80 Prozent der circa 100.000 jährlich in Deutschland durchgeführten Bandscheibenoperationen nichts bringen. Auch Mandeln und Blinddarm werden in deutschen Krankenhäusern besonders oft entfernt - obwohl das längst nicht immer notwendig wäre. Sehr beliebt unter Orthopäden ist auch eine Gelenkspiegelung des Knies, die sogenannte Arthroskopie: Sie ist nach Meinung vieler Experten meistens entbehrlich, bringt aber stets gutes Geld.
Um die Ausgaben besser in den Griff zu bekommen, fordern die Krankenkassen seit langem, dass sie mit den Krankenhäusern Einzelverträge schließen können - um besser zu kontrollieren, wer was wann genau macht.
Sinnvoll wäre es nach Meinung vieler Experten auch, die Anzahl der Kliniken weiter zu reduzieren, selbst wenn sich Kommunalpolitiker gegen Schließungen heftig wehren. Zwar müssten einige Bürger womöglich eine längere Anfahrt in Kauf nehmen, die Qualität der Versorgung würde aber wohl steigen. Denn größere Krankenhäuser können sich besser spezialisieren und haben entsprechend mehr Expertise.
Arzneimittel - weshalb darf die Pharmaindustrie Preise diktieren?

Arzneischrank (in Apotheke): Geld sparen mit Generika
Foto: KAI-UWE KNOTH/ APNoch immer ist Deutschland ein Paradies für die Arzneimittelindustrie: In keinem anderen europäischen Land kann sie die Preise so frei festsetzen. Denn hierzulande gilt das Prinzip: Jedes zugelassene Medikament müssen die Kassen auch bezahlen. Und in der Regel bestimmt die Industrie, wie viel das ist.
Im europäischen Ausland gilt Deutschland wegen dieser Einzigartigkeit als Referenzmarkt - zur Freude der dortigen Behörden. In Frankreich zum Beispiel wartet man gern, welchen Preis die Hersteller in Deutschland den Kassen diktieren. Dort hat die Pharmaindustrie dann wenig zu melden - sogenannte Verhandlungen laufen vielmehr nach dem Prinzip: Preis in Frankreich = deutscher Preis minus 20 Prozent.
Warum die deutsche Regierung die Pharmaindustrie noch immer so großzügig behandelt, ist unverständlich. Früher, als Deutschland wegen der zahlreichen heimischen Hersteller noch als "Apotheke der Welt" galt, ließ sich das mit der besonderen Bedeutung der Branche für die hiesige Wirtschaft begründen. Inzwischen ist die beachtliche Freiheit in der Preissetzung aber vor allem ein Konjunkturprogramm für ausländische Produzenten.
Besonders problematisch ist die wohlwollende Politik gegenüber den Pharmaproduzenten auch, weil die Ausgaben in diesem Bereich geradezu explodieren. Von 2007 auf 2008 wuchsen sie um mehr als fünf Prozent. Die Kosten für Medikamente sind inzwischen der zweitgrößte Block im Etat der Krankenkassen.
Das zentrale Problem ist seit langem bekannt und wurde auch vom jüngsten Arzneimittelreport bestätigt: Die deutschen Ärzte verordnen noch immer zu viele und zu teure Mittel. Experten verweisen auf internationale Preisvergleiche, die Sparpotentiale von sechs Milliarden Euro für Deutschland offenlegen. Konkret: Wenn dieser Betrag gespart würde, könnte der Kassenbeitrag um 0,5 Prozentpunkte sinken.
Zwar wurde in den vergangenen Jahren dank Nachahmermedikamenten (Generika) viel Geld gespart. Doch am effizientesten Kosten drücken könnte man bei den Originalpräparaten: Sie machen nur einen geringen Teil der Verordnungen aus, aber das Gros der Ausgaben. Hochinnovative Biotech-Medikamente, die keine Massenprodukte sind, gelten inzwischen als Kostentreiber Nummer eins. Denn sie verursachen zum Teil Kosten von mehreren zehntausend Euro pro Jahr.
Wegen der Alterung der Gesellschaft birgt die Ausgabensteigerung bei Arzneien mittelfristig die größte Sprengkraft für das gesamte Gesundheitssystem. Die Krankenkassen wollen deshalb erreichen, dass kein Mittel mehr ohne vorherige Verhandlungen auf den Markt kommen darf - so wie es in vielen Ländern seit langem üblich ist. Doch sie konnten sich bislang nicht gegen die mächtige Pharmalobby durchsetzen, die gern mit dem medizinischen Fortschritt argumentiert - der angesichts vieler Scheininnovationen aber oft begrenzt ist.
Die Kassen setzen deshalb auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Jahrelang wurde über die richtigen Methoden zur Kosten-Nutzen-Bewertung von Medikamenten gerungen, nun sollen die IQWIG-Wissenschaftler endlich damit loslegen. Sie könnten ein großes Problem lösen: Medikamente, die wenig Zusatznutzen gegenüber etablierten Therapien bieten, aber deutlich teurer sind, würden künftig wohl nicht mehr erstattet.
Noch ist das aber eher Hoffnung als Realität.
Praxiskosten - wieso haben immer mehr Ärzte immer mehr Patienten?

Patient in Arztpraxis: Seltener zum Doktor dank Telefonratgeber
Foto: Kai-Uwe Knoth/ APVon wegen Ärztemangel: Ende 2008 gab es in Deutschland gut 119.000 Ärzte mit Kassenzulassung. Ende 1992 waren es knapp 95.000. Eine dramatische Unterversorgung wurde damals allerdings nicht beklagt. Was sagt das über die heutige Situation aus?
Auch bei Medizinern gilt: Das Angebot schafft sich seine Nachfrage. Die Wartezimmer sind gut gefüllt, was auch am Ärztehopping liegt. Rund 50 Prozent der Bevölkerung nahmen der Gmünder Ersatzkasse zufolge 2007 vier oder mehr Doktoren unterschiedlicher Fachrichtungen in Anspruch.
Oft versprochen, nie konsequent umgesetzt: Der Hausarzt ist im deutschen Gesundheitswesen immer noch kein Lotse, der den Patienten durch das System führt, den Überblick über die Behandlung behält und somit unnötige und teure Mehrfachuntersuchungen verhindert.
Viele gesetzliche Kassen wollen den Hausarzt zum Erstbehandelnden machen, der bei Bedarf für seine Patienten den richtigen Fachkollegen und die beste Klinik suchen soll. Im Prinzip hatte das auch die Bundesregierung vor. Doch sie verdonnerte die Krankenversicherungen dazu, Versorgungsmodelle mit den Hausarzt-Verbänden auszuhandeln.
Das bedeutet: Weil die Hausärzte wissen, dass die Krankenkassen einen Vertrag abschließen müssen, können sie Konditionen und Preise diktieren, echte Verhandlungen finden also nicht statt. Wettbewerb um Qualität sieht anders aus. Zur Verteidigung der Ärzte sei gesagt, dass sie sich durchaus rational verhalten. Sie nutzen, was das System erlaubt.
Eine weitere Sparmöglichkeit wäre ein Telefon-Doktor, wie es ihn in der Schweiz gibt. Bei ihm kann sich jeder Rat holen. Mittels Ferndiagnose wird geklärt, ob ein Besuch bei einem niedergelassenen Kollegen überhaupt Sinn hätte.
Die deutschen Mediziner wehren sich gegen das Modell. Hauptargument: Am Telefon sei keine Vertrauensbasis gegeben. Das mag stimmen. Nur ist fraglich, ob eine Vertrauensbasis in der Arztpraxis immer vorhanden ist. Ein wahrscheinlicherer Grund für den Widerstand dürfte sein, dass die Doktoren Angst haben, Patienten zu verlieren.
Apotheken - wann gibt es Wettbewerb statt Planwirtschaft?

Apotheke: Schnelle Warnungen vor dem "ruinösen Wettbewerb"
Foto: APWer ein paar hundert Meter durch eine Einkaufsstraße in Deutschland geht, sieht neben den üblichen Verdächtigen wie H&M, Saturn und Rossmann oft das altertümliche Logo mit dem roten A. Denn an Apotheken mangelt es den Deutschen wahrlich nicht. Im vergangenen Jahr wurden 21.570 gezählt - deutlich mehr als die Autofahrernation Deutschland Tankstellen hat: gerade mal 14.506.
Und während die Anzahl der Tankstellen seit Jahren kontinuierlich zurückgeht, weil der Markt bereinigt wird, ist die der Apotheken äußerst konstant. Ihre Zahl sank von 1999 bis 2008 nur um 20 Stück. Rund 3800 Deutsche teilen sich damit eine Apotheke. In Österreich sind es 6900, in Dänemark sogar 16.800. Aus diesen Ländern hat man bislang wenig von einer Unterversorgung durch Medikamente gehört.
Die hohe Anzahl an Apotheken in Deutschland ist umso erstaunlicher, als sich die Branchenlobby seit einer gefühlten Ewigkeit in Horrorszenarien ergeht, denen zufolge die meisten Pharmazeuten inzwischen für lau arbeiten. Die Wahrheit ist: Die Umsätze je Apotheke lagen 2007 im Schnitt bei 1,7 Millionen Euro - 14 Prozent mehr als 2004. Derzeit bekommen Apotheker bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln immerhin bis zu drei Prozent des Einkaufspreises an Provision. Und eine sogenannte Dienstleistungspauschale von maximal 8,10 Euro. Bei den rezeptfreien Medikamenten können sie ihre Verkaufspreise sogar selbst festsetzen - und damit ihren Gewinn steuern.
"Bei den meisten Apothekern ist das Hungertuch aus Kaschmir", lästert deshalb ein Kenner der Szene. Andere giften, die Apotheker hätten sich wohl das alte Bauernmotto abgeguckt: "Lerne klagen ohne zu leiden", und fordern endlich mehr Konkurrenz. Doch so gern FDP und Union den Wettbewerb auch preisen, von einer schwarz-gelben Bundesregierung haben die Apotheker wenig zu befürchten.
Vor allem die stets Marktwirtschaft predigenden Liberalen gehören zu den größten Beschützern der Branche, die eine der letzten Planwirtschaft-Inseln in Deutschland ist - denn die Regulierung des Sektors ist rigide. Nur Pharmazeuten dürfen Apotheken besitzen, und zwar maximal vier. Ketten wie in anderen Ländern sind nicht erlaubt.
Wer dies ändern will, bekommt von der Apothekerlobby schnell Warnungen über angeblich "ruinösen Wettbewerb" zu hören, "unter dessen Folgen auch die Patienten zu leiden haben". Nur durch die jetzige Regelung sei die Versorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau gesichert.
Experten sehen das anders. "Studien zeigen, dass in Ländern mit Apothekenketten weder die Qualität der Beratung abnimmt noch die Arzneimittelsicherheit gefährdet ist - und auch nicht die Präsenz in dünn besiedelten Gebieten geringer wird", sagt Gesundheitsökonom Jürgen Wasem.
Die entscheidende Frage im Hinblick auf Einsparungen ist, ob die Preise für Arzneimittel sinken würden, wenn in Deutschland Apothekenketten zugelassen würden. Sicher ist das nicht. Aber wahrscheinlich, denn dann dürften die großzügigen Margen des Großhandels zurückgehen oder sogar ganz entfallen, weil die Ketten direkt mit den Herstellern verhandeln könnten.
Außerdem würden größere wirtschaftliche Einheiten entstehen. Eine Apothekenkette mit deutlich höherem Umsatz könnte mit einer geringeren Marge überleben und trotzdem den gleichen Gewinn erzielen wie ein einzelner Betrieb.