Finanzreform der Krankenkassen Auf Kosten der Versicherten

Die Bundesregierung hat die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung auf den Weg gebracht. Sie will das System gerechter machen, gleichzeitig spart sie sich mehr als zehn Milliarden Euro an Zuschüssen. Den Arbeitnehmern drohen deutliche Beitragssteigerungen.
Krankenkassenkarten: Rückkehr zu variablen Beitragssätzen

Krankenkassenkarten: Rückkehr zu variablen Beitragssätzen

Foto: Harald Tittel/ dpa

Hamburg - Es war die Überraschung der Koalitionsverhandlungen: Ausgerechnet in der sonst so konfliktträchtigen Gesundheitspolitik meldeten Union und SPD am schnellsten Vollzug. Ohne öffentliche Scharmützel einigten sie sich auf eine Finanzreform der Krankenkassen: Die 2009 eingeführten pauschalen Zusatzbeiträge sollen wieder abgeschafft werden. Ein Punktsieg für die SPD.

An diesem Mittwoch, nur vier Monate später, hat das schwarz-rote Kabinett dem Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) zugestimmt. Dennoch geraten seine Reformpläne in die Kritik, nicht nur von Seiten der Opposition. Die SPD könne sich nicht dafür bejubeln lassen, den pauschalen Zusatzbeitrag abgeschafft zu haben, "wenn wir gleichzeitig eine neue Ungerechtigkeit zulassen", wettert deren gesundheitspolitische Sprecherin Hilde Mattheis gegen die Pläne, den Krankenkassen-Beitragssatz für die Arbeitgeber weiterhin festzuschreiben.

Für Mattheis nicht das einzige Ärgernis. Denn zusätzlich stößt sich auch noch der Staat im großen Stil auf Kosten der Versicherten gesund: Deutlich mehr als zehn Milliarden Euro wollen Gröhe und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bis zum Jahr 2018 im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage beim Gesundheitssystem einsparen.

Eigentlich ist per Gesetz festgelegt, dass der Bund 14 Milliarden Euro pro Jahr in den Gesundheitsfonds zahlt - als ohnehin nur teilweisen Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen wie die Familien-Mitversicherung. Doch bereits im vergangenen Jahr überwies Schäuble lediglich 11,5 Milliarden Euro, auch für 2015 ist dieser Betrag vorgesehen. In diesem Jahr werden es mit 10,5 Milliarden Euro gar noch weniger sein. Insgesamt entsteht so ein 8,5-Milliarden-Euro-Loch im Gesundheitsfonds.

Reserven werden schnell verbraucht sein

Die Kürzung des Bundeszuschusses sei angesichts von Rücklagen von mehr als 30 Milliarden Euro bei Fonds und Kassen vernünftig, rechtfertigt der Gesundheitsminister den Schritt. Es mache keinen Sinn, im Bundeshaushalt "neue Schulden aufzunehmen und Zinsen zu bezahlen, wenn im Gesundheitsfonds gleichzeitig Milliarden auf der hohen Kante liegen", sagte Gröhe in einem Zeitungsinterview .

Dabei wird dieses Polster den meisten Experten zufolge schnell verbraucht sein. Grund ist ein stetiger und drastischer Kostenschub im Gesundheitssystem: Erstens gibt es in einer alternden Gesellschaft auch stetig mehr Patienten, zweitens ist der medizinische Fortschritt in Form neuer Technologien, Medikamente oder Therapien kostspielig. Die Folge: Für alle gesetzlich Versicherten wird es schon bald richtig teuer.

Damit werden auch die sozial gerechten Aspekte der Reformpläne überschattet. Deren Kern ist die Abschaffung des Einheitsbeitragssatzes: Derzeit ist er für alle gesetzlichen Krankenkassen gesetzlich auf 15,5 Prozent des Bruttoeinkommens festgelegt. Davon tragen die Arbeitgeber 7,3 und die Arbeitnehmer 8,2 Prozentpunkte. Benötigt eine Krankenkasse mehr Geld, darf sie - bislang - zusätzlich einen pauschalen Zusatzbeitrag von ihren Mitgliedern fordern. Diese müssen dann monatlich einen einheitlichen Fixbetrag überweisen, unabhängig von ihrem Einkommen.

Bund spart am Sozialausgleich

Stattdessen soll es nun die Rückkehr zu variablen Beitragssätzen geben, den die Krankenkassen selbst festlegen können. Zum Start der Reform im Januar 2015 soll der Satz für Arbeitnehmer zwar einheitlich ebenfalls auf 7,3 Prozent abgesenkt werden. Doch allein dadurch fehlen 10,6 Milliarden Euro im Jahr. Die meisten Kassen werden also recht bald die Beitragssätze erhöhen müssen. Da der Arbeitgeberanteil wie bisher eingefroren wird, kommt das zwar auch einem Zusatzbeitrag für die Arbeitnehmer gleich - der aber wird künftig an das Einkommen gekoppelt.

Bei Verbraucherschützern und Opposition trifft das im Grundsatz auf Zustimmung. "Wenn Mitglieder mit höherem Einkommen auch höhere Zusatzbeiträge bezahlen als Niedrigverdiener, ist das schlicht gerechter", sagt etwa Kai Vogel, Gesundheitsexperte beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Dennoch stuft Vogel die Reform unter dem Strich als Verschlechterung ein, weil gleichzeitig der Sozialausgleich wegfallen soll.

"Da ist der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben worden", sagt auch Grünen-Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink. Wie ihr Pendant in der Linken-Fraktion, Harald Weinberg, kritisiert sie, dass ausgerechnet Niedrig- und Mittelverdiener benachteiligt werden. Denn der Sozialausgleich deckelte grob vereinfacht den pauschalen Zusatzbeitrag auf zwei Prozent des Bruttoeinkommens, ab dann sollte der Staat einspringen.

Ohne einen solchen Deckel spart der Bund in den kommenden vier Jahren noch einmal insgesamt 3,8 Milliarden Euro. So summieren sich die staatlichen Kürzungen bis 2018 auf weit mehr als zehn Milliarden Euro.

Trägheitseffekt gegen Massenflucht

Auch der Druck auf die Krankenkassen wächst durch den staatlichen Griff in die Finanzen wieder. Eigentlich hatte die Reform für sie positive Effekte: Sie können mit variablen Beitragssätzen wesentlich besser leben als mit den bisherigen Pauschalen, wie die Erfahrung zeigt. Als im Jahr 2010 die DAK und weitere Kassen den Zuschlag erhoben, flüchteten gerade ihre jungen und gesunden Mitglieder in Scharen.

Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen begründet das auch damit, dass die Mitglieder das Geld selbst zu überweisen hatten: Da sie ohnehin aktiv werden mussten, wechselten sie bei der Gelegenheit lieber gleich zu einer Kasse ohne Zusatzbeitrag. Die Finanzreform werde eine derartige Massenflucht künftig verhindern, sagt Wasem. Würden Beitragssteigerungen nämlich direkt vom Gehalt abgezogen, animiere das wesentlich weniger Versicherte zum Wechsel.

Wasem sieht durchaus noch weitere Vorteile für die Kassen. So sorgte das Einfordern von Zusatzbeiträgen bislang für einen enormen bürokratischen Aufwand, den die Kassen sich in Zukunft sparen könnten. Vor allem aber führe der Systemwechsel auf lange Sicht zu einem effizienteren Gesundheitssystem. Da die Kassen derzeit einen Zusatzbeitrag um jeden Preis verhindern wollen, verzichten sie auf sinnvolle Investitionen, die sich erst nach Jahren rechnen - etwa der Aufbau von Ärztenetzen. "Der Zusatzbeitrag hat zu einer extrem kurzfristigen Denke bei den Kassen geführt. Das könnte sich nun ändern", sagt Wasem.

Die Freude der gesetzlich Versicherten dürfte sich in Grenzen halten. Laut Berechnungen dürften viele Kassen ihre Beitragssätze zwar nach dem Reformstart Anfang 2015 für einige Zeit unter dem jetzigen Niveau halten können. Doch bereits im Jahr 2017 werden sie ihn voraussichtlich auf durchschnittlich mindestens 16 Prozent hochschrauben müssen - ein halber Prozentpunkt mehr als derzeit.

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