Linken-Vorstoß Die Viertagewoche für alle - ein Traum

Montage beim Maschinenbauer Schuler in Göppingen (2017): 30-Stunden-Woche für alle?
Foto: Marijan Murat/ dpaEs wirkte, als hätten sie sich mit ihren Vorstößen abgesprochen, der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann und die Linken-Spitzenleute um Parteichefin Katja Kipping: Der Gewerkschaftschef brachte eine Viertagewoche ins Spiel, um im Strukturwandel Arbeitsplätze zu sichern - was in seiner Branche konkret eine 28-Stunden-Woche bedeutet. Kipping und Co. forderten in einem Positionspapier zur Digitalisierung die 30-Stunden-Woche als neue Vollzeitnorm für alle.
So unterschiedlich die Vorstöße im Detail auch sind, sie treffen einen Nerv - auf der persönlichen Ebene sowieso: Viele Beschäftigte haben das Gefühl, eine 40-Stunden-Woche sei zu viel für die modernen Anforderungen des Alltags - den Haushalt zu erledigen, Kinder zu betreuen, Eltern zu pflegen, dem ehrenamtlichen Engagement in Sportverein oder Feuerwehr. Das gilt erst recht, da die vor vielen Jahrzehnten noch klassische Rollenverteilung - der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau hütet Haus und Kinder - schon lange nicht mehr die Realität abbildet. Folgerichtig ist Teilzeit längst so normal geworden wie Vollzeit: Anfang der Neunziger betrug das Verhältnis von Vollzeit- zu Teilzeitjobs noch acht zu zwei - inzwischen lautet es sechs zu vier.
Doch nicht nur individuell, auch gesamtgesellschaftlich könnte eine verkürzte Vollzeit erwünschte Veränderungen unterstützen: Allzu oft sind es bei Paaren spätestens ab dem ersten Kind die Frauen, die in Teilzeit gehen - mit allen bekannten negativen Folgen für ihre Rente und ihre finanzielle Unabhängigkeit. Sehr häufig würden die Paare Erwerbs- und Hausarbeit lieber gleichberechtigt aufteilen, ihnen bleibt aber angesichts besserer Verdienste der Männer allein deshalb keine Wahl, weil sonst zu wenig Geld da ist. Könnten stattdessen beide weiter mit 30 Stunden pro Woche arbeiten, käme die Gleichstellung von Frauen große Schritte voran.
Wie sind also die Vorstöße von IG Metall und der Linken um Kipping zu bewerten?
So ähnlich sie im ersten Moment klingen, so verschieden sind die Ansätze: Die IG Metall ist zwar traditionell eine Vorreiterin der Arbeitszeitverkürzung. Schon seit den Neunzigerjahren gilt in der Branche die 35-Stunden-Woche, und 2018 erkämpfte die Gewerkschaft vielen Beschäftigten das Recht auf eine befristete 28-Stunden-Woche – allerdings reduzieren sich dann auch die Gehälter. Beide Male ging es im Grunde um eine bessere Work-Life-Balance.
Vorbild aus den Neunzigerjahren: VW
Diesmal jedoch begründet der Gewerkschaftschef den Vorstoß im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" mit einer recht branchenspezifischen Krise ganz unabhängig von Corona: dem Strukturwandel insbesondere in der Autoindustrie. Der Trend zur E-Mobilität kostet dort bereits Jobs und gefährdet in den kommenden Jahren viele weitere, vor allem weil die Produktion von E-Autos in der Summe deutlich weniger menschliche Arbeitszeit benötigt.
Diesen Rückgang an Arbeit insgesamt will Hofmann also auf die gleiche Zahl an Mitarbeitern verteilen - wo es sinnvoll ist. Er fordert keine generelle Verkürzung der Arbeitszeit, sondern eine "Option für die Betriebe" im nächsten Tarifvertrag, um Stellenabbau zu vermeiden. Nur wenn Unternehmen und Betriebsrat also einig wären, würde die Viertagewoche in einem Betrieb eingeführt. Und: Mit der Arbeitszeit würden auch die Löhne gekürzt. Der IG-Metall-Chef wünscht sich lediglich einen "gewissen Lohnausgleich". So ein Modell hat in der Vergangenheit schon einmal sehr gut funktioniert: In den Neunzigerjahren steckte Volkswagen in einer tiefen Krise - und hielt über eine mit der Gewerkschaft vereinbarten 28,8-Stunden-Woche die Belegschaft.
Im Unterschied dazu wollen Kipping und Co. für alle Beschäftigten eine "generelle Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden in Vollzeit" - und zwar in einem bestimmten Zusammenhang. Die Forderung taucht in einem umfassenden Positionspapier zur Digitalisierung auf, neben vielen anderen, etwa zum Kartellrecht, Besteuerung von Digitalunternehmen, Datenschutz von Verbrauchern und Angestellten, digitaler Teilhabe oder Glasfasernetzen. Während die anderen Forderungen relativ klar umrissen und ausführlich beschrieben werden, bleibt es bei der verkürzten Vollzeit bei einem sehr vage formulierten Satz. Dennoch wird deutlich, weshalb eine 30-Stunden-Woche zwingend sein soll, nämlich "um Produktivitätsfortschritte allen zugutekommen zu lassen".
Darin stecken zwei Prämissen:
Die Digitalisierung wird viel menschliche Arbeit überflüssig machen, die Gesamtmenge an Arbeit wird also deutlich kleiner - im Gegenzug steigt die Produktivität der verbliebenen Arbeit, die Gesellschaft wird also dennoch wohlhabender.
Diese verbleibende Arbeit lässt sich gerecht auf die Menschen aufteilen, um die negativen Folgen zu vermeiden: eine Spaltung der Gesellschaft in gut verdienende Jobinhaber und Arbeitslose ohne Perspektive.
Das Problem ist nur: Fast alle Arbeitsmarktexperten gehen davon aus, dass die Digitalisierung unter dem Strich auch auf lange Sicht eben nicht zu weniger Arbeit führen wird - sondern zu anderer. "Wenn wir in Qualifizierung investieren und Neueinstellungen fördern, wird die Arbeitslosigkeit auch bei voranschreitender Digitalisierung weiter sinken", sagt etwa Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Und auch die zweite Prämisse hat einen Haken. Ökonomen sprechen von "Lump of Labour Fallacy" - und meinen damit den Trugschluss, die Menge der zu erledigenden Arbeit sei eine unveränderliche Menge; eine Art großer Kuchen, der in Stücke unterschiedlicher Größe geschnitten verteilt werden könne.
Für viele Firmen macht es aber einen Unterschied, ob eine 100-Prozent-Stelle von einer Vollzeitkraft besetzt wird oder von beispielsweise drei 33-Prozent-Kräften. Die Einstellungs- und Trainingskosten fallen jeweils dreimal an, Versicherungsbeiträge werden fällig, hinzu kommt ein wachsender Koordinationsaufwand. Eine verpflichtende generelle Verkürzung der Arbeitszeit, wie von Kipping vorgeschlagen, könnte also - selbst ohne Lohnausgleich - mit einer Erhöhung der Arbeitskosten für die Firmen einhergehen.
Ein Land ist keine Firma
Axel Börsch-Supan ist Wirtschaftsprofessor in München, sein MEA-Institut beschäftigt sich eigentlich mit den Folgen des demografischen Wandels etwa für die gesetzliche Rente, hat aber auch ein eigenes Forschungsprojekt zur "Lump of Labour Fallacy". Die sei "einer der schädlichsten Mythen in der Wirtschaftswissenschaft", sagt Börsch-Supan. Immer wieder werde damit argumentiert: Früher habe man behauptet, mehr Frauen in Jobs würden die Männer verdrängen, später seien es die älteren Arbeitnehmer, die den jüngeren angeblich die Jobs wegnähmen.
Das Problem rühre daher, dass viele Menschen sich die Mechanismen in der Volkswirtschaft ähnlich vorstellten wie die Abläufe in einem mittleren Betrieb. Dessen Kundenstamm ist fix, ebenso seine Produktionskapazitäten - und die Firma kann nur eine bestimmte Menge von Mitarbeitern gebrauchen.
Volkswirtschaften funktionieren aber anders. Oder wie Nobelpreisträger Paul Krugman einmal formulierte: "A Country is not a Company" - ein Land ist keine Firma. "Ein Betrieb ist einfach keine gute Analogie, um eine Volkswirtschaft zu verstehen", sagt Börsch-Supan. Ein Beispiel ist die Wirkung von Innovationen, die die Produktivität erhöhen, etwa der Einsatz von Robotern oder Computern. Im ersten Schritt können diese Innovationen in den betroffenen Bereichen tatsächlich Arbeitsplätze kosten, in denen die Produktivität steigt: Weniger Mitarbeiter schaffen das gleiche Pensum.
Das ist allerdings erst der Beginn einer Reihe von Anpassungs- und Folgeeffekten: Die Firma wird womöglich erfolgreicher und weitet ihr Sortiment aus. Komplexe Produkte wie Fahrzeuge oder digitale Endgeräte werden entweder erfunden oder günstiger und für breitere Kundenschichten erschwinglich - sodass die Nachfrage und damit auch die Zahl der Beschäftigten steigt. Die Nachfrage nach Robotern, Maschinen und Software löst im Maschinenbau und in der IT-Wirtschaft einen Boom aus. Profitablere Firmen wiederum reichen mehr Geld an Fachkräfte und Anteilseigner wie Aktionäre weiter - die die Wirtschaft wieder in ganz anderen Bereichen ankurbeln, vor allem im Dienstleistungsbereich. Dort entstehen vollkommen neue Angebote, die wiederum vollkommen neue Bedürfnisse befriedigen - wer hätte im Jahr 1990 vermutet, dass es eine Online-Kleidungsberatung geben würde?
Darum hat sich die Sorge, der Fortschritt fresse die Arbeit auf, seit einem halben Jahrhundert nie bewahrheitet - obwohl viele Medien sie mehrfach prominent geäußert haben, auch der SPIEGEL.
White vs blue collar, 1978 vs 2016 –Spiegel-Titelbilder im Wandel der Zeit; via @Linksdings pic.twitter.com/gvaZ8JfwTp
— Lorenz Matzat (@lorz) September 3, 2016
Allerdings ist eine Grundannahme des Linkenvorstoßes durchaus richtig: Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Produktivität deutlich zu steigern - man muss es nur nutzen. Hier hapert es in Deutschland allerdings, und das könnte gefährlich werden. Denn eigentlich ist die große Herausforderung für die kommenden Jahre nicht, dass uns die Arbeit ausgeht - sondern die Arbeitskräfte.
In den vergangenen Jahren ist die deutsche Wirtschaft vor allem dadurch gewachsen, dass sie immer mehr Menschen eingestellt hat - aber häufig recht unproduktiv beschäftigte, wie IAB-Forscher Weber erklärt. Nach wie vor gibt es einen riesigen Niedriglohnsektor, in dem fast jeder beziehungsweise jede Vierte arbeiten. Allein durch den demografischen Wandel wird die Wirtschaft sehr bald nicht mehr auf diese Weise wachsen können - "sondern vor allem, indem sie die Qualität der Arbeit erhöht", sagt Weber. "Wir müssen mit weniger Menschen dennoch mehr erwirtschaften".
Konkret bedeutet das: massiv in Weiterbildung und Qualifizierung investieren, bessere Arbeitsbedingungen schaffen und auch höhere Löhne zahlen. In der Folge würde auch die Produktivität deutlich steigen. So könnte zumindest der Rückgang an verfügbaren Arbeitskräften ausgeglichen werden. Eine flächendeckende Verkürzung der Arbeitszeit wäre dann erst ein mögliches nächstes Ziel: "Kürzer arbeiten ist gut, für diejenigen, die das wollen", sagt IAB-Ökonom Weber: "Wir sollten uns die Arbeitszeit aber nicht von der Digitalisierung vorgeben lassen. Generell sollte es um flexibler gehen, nicht um kürzer für alle."