Lohn-Kluft
Warum die Arbeitswelt Frauen benachteiligt
Frauen und Männer trennt eine gewaltige Lohn-Kluft: Schon zum Berufseinstieg verdienen weibliche Angestellte fast 20 Prozent weniger. SPIEGEL ONLINE zeigt, in welchen Branchen es besonders ungerecht zugeht, welche gesellschaftlichen Ursachen die Ungleichheit hat - und was sich ändern muss.
Hamburg - Es ist eine sehr umfangreiche Studie - und das Ergebnis ist erschütternd: Obwohl es als gesellschaftlicher Konsens angesehen werden kann, dass Frauen und Männer gleich viel verdienen sollten, ist die Realität quer durch die Republik eine andere. Trotz steigender Qualifikationen werden Frauen im Berufsleben - und vor allem bei der Entlohnung - noch immer eklatant benachteiligt. Viele Chefs verteilen das Gehalt nach Geschlecht.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hat diesen Misstand nun detailliert untersucht. Mehr als 106.000 Datensätze sind in die Analyse eingeflossen, die Ergebnisse wurden mit Erhebungen aus acht anderen europäischen Ländern verglichen. Bei gleich einer ganzen Reihe von Punkten schneidet Deutschland dabei schlecht ab:
Schon beim Einstieg ins Berufsleben sind Frauen deutlich schlechtergestellt als Männer. Ihr Einkommen liegt in den ersten drei Berufsjahren im Schnitt 18,7 Prozent unter dem ihrer männlichen Kollegen.
Die Lohnungleichheit steigt mit den Berufsjahren sogar noch an: In der Gruppe der Angestellten mit vier bis zehn Jahren Berufserfahrung wächst der Abstand auf 21,8 Prozent.
Im Westen ist der Einkommensunterschied größer als im Osten.
Die Lohn-Kluft zieht sich durch alle Branchen.
Je größer der Betrieb ist, desto größer ist der absolute Einkommensrückstand weiblicher Berufsanfänger.
Im europäischen Vergleich mit sieben anderen Ländern liegt Deutschland zwar noch im oberen Drittel - in Ländern wie Polen oder Spanien ist die Lohndiskrepanz noch weit größer. Allerdings ist das Lohngefälle in vielen europäischen Ländern seit 1995 geschrumpft. In Deutschland dagegen nahm es leicht zu.
Tief verwurzelte gesellschaftliche Denkmuster
Die WSI-Analyse ist mehr als eine Faktenerhebung. Auch die Ursachen der deutschen Lohn-Kluft werden darin detailliert untersucht. Das Ergebnis: Das Ungleichgewicht der Einkommen ist die Folge tiefverwurzelter gesellschaftlicher Entwicklungen, die über Jahrzehnte hinweg ein Wertesystem geformt haben, das Frauen von Grund auf benachteiligt.
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Frauen-Löhne: Vielfältige Benachteiligung
Die Benachteiligung von Frauen basiert der Studie zufolge nur zum Teil auf objektiv messbaren Fakten. "Der geschlechtsspezifische Einkommensrückstand lässt sich weder durch unterschiedliche Bildungsvoraussetzungen noch durch eine spezifische Berufswahl vollständig erklären", sagte Projektleiter Reinhard Bispinck am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie auf einer WSI-Fachtagung zur Gleichstellung. "Die Ergebnisse verweisen vielmehr auf das Fortbestehen geschlechtsspezifischer Lohndiskriminierung."
Ernüchternd ist auch die Bilanz des WSI dessen, was Regierungen und Unternehmensführungen bislang gegen diese Diskriminierung unternommen haben. "In Deutschland gibt es bis dato keine umfassende politische Strategie, die sich des Themas Entgeltgleichheit angenommen hätte", schreibt das WSI.
Wie groß sind die Einkommensunterschiede in verschiedenen Branchen? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen haben das Problem hervorgebracht? Und was sollte gegen Lohnungleichheit unternommen werden? SPIEGEL ONLINE zeigt die Ergebnisse der Erhebung im Überblick.
Die Fakten - in welchen Branchen Frauen besonders benachteiligt werden
Schon auf der untersten Sprosse der Karriereleiter erfahren junge Frauen häufig finanzielle Diskriminierung. In den ersten drei Jahren ihrer Berufstätigkeit verdienen sie trotz höherer Bildungsabschlüsse durchschnittlich 18,7 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. In den sieben darauffolgenden Jahren wird sich die Lohn-Kluft sogar noch deutlich vergrößern - um schließlich bei Angestellten mit mehr als zehn Jahren Berufserfahrung auf hohem Niveau zu stagnieren.
Einkommensunterschiede nach Berufserfahrung
Berufsjahre
Männer
Frauen
Differenz
Anzahl
Einkommen
Anzahl
Einkommen
Absolut
in Prozent
Bis 3 Jahre
9548
2734 Euro
6563
2225 Euro
-509 Euro
-18,7 Prozent
4 bis 10 Jahre
18.451
3141 Euro
11.139
2455 Euro
-686 Euro
-21,8 Prozent
Über 10 Jahre
40.829
3432 Euro
19.475
2719 Euro
-713 Euro
-20,8 Prozent
Insgesamt
68.828
3235 Euro
37.177
2538 Euro
-697 Euro
-21,6 Prozent
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Das Problem, dass Frauen schon zu Karrierebeginn benachteiligt werden, zieht sich in unterschiedlicher Ausprägung durch alle Branchen. In den einzelnen Sektoren variiert der Lohnunterschied im Vergleich zu männlichen Berufseinsteigern zwischen 4,9 Prozent (Energie/Wasser) und 21,2 Prozent (Kredit/Versicherungsgewerbe).
Monatsverdienst von Berufsanfängern nach Wirtschaftssektoren
Branche
Frauen
Männer
Produzierendes Gewerbe
2380 Euro
2925 Euro
Energie- und Wasserversorgung, Entsorgung, Recycling
2623 Euro
2756 Euro
Baugewerbe
2106 Euro
2370 Euro
Handel, Instandhaltung und Reparatur
1847 Euro
2284 Euro
Hotel- und Gaststättengewerbe, Gastronomie
1697 Euro
1909 Euro
Transport, Logistik, Post und Telekommunikation
2298 Euro
2427 Euro
Kredit- und Versicherungsgewerbe
2568 Euro
3257 Euro
Öffentlicher Dienst, Verbände
2197 Euro
2774 Euro
Erziehung und Unterricht, Forschung und Entwicklung
2390 Euro
2882 Euro
Gesundheits- und Sozialwesen, Pflegedienstleistungen
2099 Euro
2658 Euro
Sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen
2273 Euro
2761 Euro
Gesamtdurchschnitt
2223 Euro
2734 Euro
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
Auch in den meisten Berufen steigen Frauen mit deutlich weniger Gehalt ein als Männer. Nur in Berufen, die als "typisch weiblich" angesehen werden, verdienen Frauen zum Karrierebeginn mehr - werden aber oft in den Folgejahren von ihren männlichen Kollegen überholt. Nur Mathematikerinnen und Statistikerinnen liegen bei den Löhnen vorn.
Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen in ausgewählten Berufen
Bürokauffrauen mit bis zu drei Berufsjahren verdienen mit 1782 Euro nur rund 1,7 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen, die auf 1813 Euro kommen. Bei Mitarbeitern mit vier bis zehn Berufsjahren steigt der Rückstand auf 10,7 Prozent.
Industriekauffrauen mit bis zu drei Berufsjahren verdienen im Schnitt 11,5 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen (1962 statt 2216 Euro), in den folgenden Jahren (vier bis zehn Berufsjahre) schwächt sich die Einkommensdifferenz etwas ab; sie beträgt dann noch 10,3 Prozent.
In diesem Beruf beträgt der Einkommensabstand der Frauen gegenüber den Männern gut 14 Prozent. In den ersten drei Jahren bedeutet dies einen Rückstand von durchschnittlich 286 Euro, bei Mitarbeitern mit vier bis zehn Berufsjahren wächst er absolut auf 335 Euro.
In den ersten drei Berufsjahren liegen Frauen acht Prozent hinter den Männern zurück. Bei Mitarbeitern mit vier bis zehn Berufsjahren wächst dieser Rückstand auf 14,9 Prozent. Bei den Frauen steigt das durchschnittliche Einkommen von 2053 auf 2317 Euro, bei den Männern von 2230 Euro auf 2722 Euro.
Bankkauffrauen verdienen in den ersten drei Jahren im Schnitt mit 2462 Euro insgesamt 105 Euro (4,1 Prozent) weniger als Bankkaufmänner. Dieser Abstand wächst in der Gruppe der Beschäftigten mit vier bis zehn Berufsjahren auf 217 Euro (7,4 Prozent).
Berufsanfängerinnen liegen mit einem Einkommen von 2211 Euro in den ersten drei Berufsjahren im Schnitt 5,6 Prozent vor ihren männlichen Kollegen (2093 Euro). Weibliche Angestellte mit vier bis zehn Berufsjahren verdienen dagegen im Schnitt 9,4 Prozent weniger als männliche Sozialpädagogen.
Mathematikerinnen starten mit einem kräftigen Einkommensrückstand von 15,7 Prozent gegenüber ihren männlichen Kollegen. Sie verdienen im Schnitt in den ersten drei Jahren 3100 Euro, Männer 3677 Euro. In der Folgezeit (vier bis zehn Berufsjahre) steigern die Frauen ihr Durchschnittseinkommen auf 4237 Euro. Männer verdienen in dieser Zeitspanne im Schnitt 4187 Euro und liegen damit 1,2 Prozent hinter den Frauen.
Zu Beginn ihrer Berufskarriere verdienen Juristinnen im Schnitt 7,3 Prozent weniger als Männer. Sie verdienen in den ersten drei Berufsjahren im Schnitt 3207 Euro, rund 252 Euro weniger als ihre Kollegen. Bei Mitarbeitern mit vier bis zehn Berufsjahren wächst der Abstand sogar auf 12,4 Prozent. Juristinnen verdienen dann im Schnitt 3845 Euro, Juristen 4391 Euro.
Weitere Ergebnisse der Studie finden Sie zusammengefasst in der Bildergalerie:
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Frauen-Löhne: Vielfältige Benachteiligung
Benachteiligung von Frauen im Job - Die Ursachen
Neben genauen Daten darüber, wie Frauen genau benachteiligt werden, zeigt die WSI-Studie auch detailliert Gründe dafür auf, wie das Problem der Ungleichbehandlung entstanden ist.
Unter anderem werden ökonomische Erklärungsansätze angeführt, denen zufolge es auf dem Arbeitsmarkt eine Art Selbstselektionsprozess gibt, der dazu führt, dass bestimmte Frauen und Männer bestimmte Berufe ergreifen. Einige Frauen investieren demnach weniger in ihre Ausbildung als Männer, unter anderem, weil sie spätere familiäre Verpflichtungen antizipieren. Nach dieser Theorie richten sich manche weibliche Angestellte darauf ein, ihre Tätigkeit zu unterbrechen, um Kinder zu bekommen, während Männer stärker auf eine kontinuierliche Erwerbsbiografie ausgerichtet sind und entsprechend mehr in ihre Qualifizierung investieren.
In der Folge gehen diesem Erkläransatz zufolge viele Unternehmen davon aus, dass Männer auf Tätigkeiten, die umfangreiche Ausbildung oder größere Berufserfahrung erfordern, besser vorbereitet sind.
Benachteiligung von Frauen lässt sich nur zum Teil rational erklären
So plausibel dieser Erkläransatz zunächst klingt - rational erklären kann er die Benachteiligung von Frauen nicht. Weiblichen Angestellten wird nach diesem Modell pauschal unterstellt, dass Karriere- und Familienplanung sich nicht vereinbaren lassen. Zudem scheinen nicht wenige Firmenchefs dieses Denkmuster auch auf Frauen zu übertragen, die vielleicht gar keine Kinder bekommen wollen - und viel Zeit und Energie in eine gute Ausbildung investieren.
Dieses Denkmuster führt dazu, dass Frauen auch bei gleicher Qualifikation und Produktivität nicht zu gleichen Konditionen wie Männer eingestellt und beschäftigt werden. Der Arbeitgeber scheint in diesem Fall davon auszugehen, dass die Einstellung einer Frau Unsicherheiten birgt - und rechtfertigt damit Abstriche beim Lohn.
Schon dieses Denkmuster ist rational kaum zu begründen - in der WSI-Studie wird obendrein explizit darauf hingewiesen, dass es offenbar noch wesentlich irrationalere Überlegungen gibt, die zu einer Diskriminierung weiblicher Angestellter führen. Viele Ursachen, wegen denen Frauen benachteiligt werden, seien noch immer klärungsbedürftig.
Arbeitsmarkt zerfällt in Männer- und Frauendomänen
Klar sei dagegen, dass die Einstellungs- und Beförderungspolitik der Unternehmen direkte Auswirkungen auf den Jobmarkt habe. Sie setze einen sich selbst verstärkenden gesellschaftlichen Prozess in Gang, bei dem der Arbeitsmarkt in Frauen- und Männerdomänen zerfalle. Da vor allem die prestigeträchtigen Berufe von Männern dominiert werden, wird Frauenjobs letztlich ein geringerer Status zugeschrieben. Frauen werden also als unqualifizierter eingestuft, weil die Frauendomänen des Arbeitsmarkts im gesellschaftlichen Wertesystem einen geringeren Status haben.
Solche Statuszuschreibungen erschweren aus Sicht vieler Experten die Aufstiegschancen von Frauen. Weil Männern ein höherer Status zugeschrieben wird, bekommen sie öfter hochbezahlte und hierarchisch höherstehende Positionen zugewiesen. Das aber zementiert die diffuse Vorstellung von einer Art "männlicher Höherwertigkeit" nur noch weiter - wodurch noch weniger Frauen befördert werden.
Letztlich können diese Rollenmuster dazu führen, dass Frauen ihre eigenen Fähigkeiten geringschätzen. Oder dass sie - ganz pragmatisch und vermutlich zu Recht - die eigenen Aufstiegschancen als eher schlecht einschätzen und diese Einschätzung bei ihrer Karriereplanung berücksichtigen. Im Klartext: Wer sich den Kampf gegen Vorurteile nicht antun will, wählt einen Job in einer Frauendomäne.
Die Konsequenz - was man gegen Frauendiskriminierung unternehmen kann
Die gesellschaftlichen Probleme, durch die Frauen benachteiligt werden, sind in zahlreichen Studien erforscht worden - politische Konsequenzen wurden daraus allerdings in Deutschland kaum gezogen. "Hierzulande existiert bis dato keine umfassende politische Strategie, die sich des Themas Entgeltgleichheit angenommen hätte", heißt es in einer WSI-Vorlage zur Einkommensungleichheit. Das deutsche Tarifsystem sei nicht geschlechterneutral - und daran sei die Regierung mit schuld, denn die deutsche Rechtsprechung habe das europäische Entgeltgleichheitsrecht nur lückenhaft umgesetzt.
Auch auf betrieblicher Ebene würden Maßnahmen zur Durchsetzung von mehr Lohngerechtigkeit viel zu selten genutzt. Eine gleichwertige Entlohnung von Männern und Frauen könne etwa in Tarifverträgen festgeschrieben werden. Es sei erwiesen, dass die Existenz eines Betriebsrates und eine Tarifbindung zu einem geringeren Lohnabstand zwischen den Geschlechtern führten. Erfolgreiche Praxisbeispiele wie etwa ein Diskriminierungs-Check von Tarifverträgen durch Betriebsrätinnen oder Statistikerhebungen zur Entgeltpraxis durch die Gleichstellungsbeauftragte existierten bereits.
Gleichberechtigungsbeauftragte müssten in Firmen vor allem darauf achten, dass die Arbeit von Frauen nicht schlechter bewertet wird als die ihrer männlichen Kollegen. Es gebe viele dehnbare Kriterien, die sich je nach Bedarf unterschiedlich gewichten und bewerten ließen - und entsprechend diskriminierungsanfällig seien. Gleichberechtigungsbeauftragte könnten beispielsweise darauf achten, dass die Beschreibung und Einstufung von Arbeitsaufgaben bei allen Angestellten gleich ist.
Und sie könnten darauf drängen, dass auch scheinbar geschlechtsneutrale Kriterien zur Einstufung des Grundentgeltes - wie etwa Berufsjahre - fair gewichtet werden. Frauen, die aufgrund einer Schwangerschaft ihre Arbeit unterbrechen, sollten zum Beispiel keine Einbußen beim Lohn hinnehmen müssen.