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Thatchers Wirtschaftspolitik Die knallharte Kapitalistin

Mit ihrer Wirtschaftspolitik brachte Margaret Thatcher die Menschen auf. Ihr rigider Kapitalismus und gnadenloser Kampf gegen die Gewerkschaften nährte erbitterte Feindschaften. Und heute? Gilt sie als eine der bedeutendsten Reformerinnen der Nachkriegsära.
Von Wolfgang Kaden

Sollten wir sie verachten? Sollten wir sie bewundern? Wir schwankten vom Beginn ihrer Amtszeit 1979 bis zu ihrem wenig glamourösen Abgang 1990 stets zwischen Hochachtung und Verdammung. Einerseits: Sie hatte mit ihrer Zielstrebigkeit und ihrer Härte das Vereinigte Königreich vor dem endgültigen Absturz in die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit bewahrt. Andererseits: Sie hing einem schonungslosen Kapitalismus an, den gerade wir Deutschen mit der Mischform von sozialer Marktwirtschaft für längst überwunden hielten; und sie schien mit ihrer antieuropäischen Politik eher der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zugehörig als dem auslaufenden zweiten Teil.

Ich bin Margaret Thatcher nur einmal begegnet. 1993 hatte der SPIEGEL  die Rechte für den Vorabdruck einiger Kapitel ihrer Memoiren erworben, ein Interview mit der Autorin gehörte zu dem teuren Vertragspaket. Es wurde eines der härtesten und forderndsten SPIEGEL-Gespräche, die ich jemals geführt habe. Kurze Begrüßung, kein Small Talk, wie sonst bei Interview-Terminen üblich. Wir fragten kritisch, aber keineswegs übertrieben aggressiv. Doch Lady Thatcher witterte, so schien es mir, hinter jeder unserer Fragen einen feindseligen Akt und antwortete entsprechend, knallhart, zuweilen regelrecht feindselig. Und so kurz wie die Begrüßung, so knapp angebunden war der Abschied.

Amtsantritt in einer desaströsen Situation

Wir waren einer Frau begegnet, die Geschichte geschrieben hatte, auch wenn uns das damals noch nicht in seiner ganzen Breite so deutlich war. Margaret Thatcher hatte bei ihrem Amtsantritt ein Land in desaströsem Zustand übernommen. Großbritannien - das war nach dem Zweiten Weltkrieg ein riesiges Versuchslabor für die Vermischung von Sozialismus und Kapitalismus. Weite Bereiche des Landes waren verstaatlicht worden: das Gesundheitssystem; die Stahlindustrie und der Kohlebergbau, Teile des Einzelhandels, Hotels und sogar Reisebüros. England war zum Synonym für den perfekten Wohlfahrtsstaat geworden, mit allumfassender Fürsorge für die Bürger. Und vor allem: mit Gewerkschaften, deren Macht schier unbegrenzt schien.

Es war ein System, das jede Eigeninitiative strangulierte. Das Land verlor zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit, seine Industrie spielte im globalen Geschäft kaum noch eine Rolle, das Pfund war im freien Fall. Und keiner der bis dahin regierenden Politiker besaß die Kraft, umfassende Veränderungen einzuleiten. Bis Margaret Thatcher erst den Parteivorsitz der Tories eroberte und dann, 1979, zur Premierministerin aufstieg.

Da zog keine Intellektuelle in Downing Street Nr. 10 ein, sondern eine einfach denkende, durch und durch politische Frau. Sie besaß das, was nicht alle Politiker vorweisen können, weder damals noch heute, was aber gerade in kritischen Situationen hilfreich sein kann: ein Konzept. Die Tochter eines Kolonialwarenhändlers aus Grantham in Lincolnshire war geprägt vom Geist des Calvinismus, jener Lehre, wonach man mit wirtschaftlichem Erfolg, errungen im freien Wettbewerb, die Gunst des Allmächtigen erwarb. Ihre Grundsätze, inzwischen als "Thatcherismus" in die Historie eingegangen, waren recht schlicht, aber einprägsam: Privatisierung der staatseigenen Unternehmen, radikale Einschränkung der Gewerkschaftsmacht, Beendigung der chronischen Geldentwertung, Schluss mit konfiskatorischer Besteuerung. Der freie Markt sollte wieder Einzug halten im Vereinigten Königreich, die britische Variante des Sozialismus beseitigt werden. Ein für den Wohlfahrtsstaat Großbritannien wahrhaft revolutionäres Konzept.

Thatcher nahm die Gefahr der eigenen Abwahl in Kauf

Und ein Risiko, das heutzutage, da hierzulande und anderswo Regierungsentscheidungen vornehmlich nach demoskopischen Resultaten gefällt werden, besondere Würdigung verdient. Margaret Thatcher wollte führen. Thatcher wollte ihre Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt sehen - und sie nahm dafür auch die Gefahr einer Abwahl nach einer Legislaturperiode in Kauf. Am Ende wurde ihr Mut belohnt, sie gewann noch zwei weitere Unterhauswahlen.

Den härtesten Kampf focht sie fraglos gegen die Gewerkschaften. Sie stand 1984/85 einen einjährigen Streik der Bergarbeiter durch, die gegen die geplanten Zechenschließungen und die Privatisierung der Branche aufstanden. Der Streik beschädigte weite Teile der britischen Industrie, doch die Premierministerin ließ sich nicht von ihren Plänen abbringen. Schließlich ging der National Union of Mineworkers das Geld aus, der Widerstand war gebrochen. Und nun machte sich Thatcher daran, umfassend die Gewerkschaftsmacht zu stutzen. Vor allem sorgte sie dafür, dass die sogenannte Closed-Shop-Regelung abgeschafft wurde, eine gesetzlich vorgeschriebene Zwangsmitgliedschaft in Gewerkschaften für Arbeiter zahlreicher Unternehmen.

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Margaret Thatcher ist tot: Die Eiserne Lady

Foto: Gerald Penny/ AP/dpa

Der gnadenlose Kampf gegen die Gewerkschaften war eine rein britische Angelegenheit. Mit ihrer konsequenten Entstaatlichung von Unternehmen sorgte Margret Thatcher aber weit über Großbritannien hinaus für ein wirtschaftspolitisches Umdenken. Dass die Post, das Fernmeldewesen, die Fluggesellschaften oder die Eisenbahnen in Staatshand gehören - das war in Europa und über den Alten Kontinent hinaus bis zum Amtsantritt Thatchers nahezu unumstritten. Nur ein paar erzliberale Wirtschaftsprofessoren, wie der Amerikaner Milton Friedman, forderten das Ende dieser staatlichen Monopole.

Thatcher ignorierte dieses Mainstream-Denken mit der ihr eigenen Konsequenz und machte sich munter ans Privatisieren: British Airways, British Rail, die königliche Post, das Fernsprechnetz - alles kam in die Hände privater Aktionäre. Nicht immer mit Erfolg: Das Schienennetz der britischen Eisenbahnen wurde derart vernachlässigt, dass es schließlich wieder in staatliche Obhut gegeben wurde.

Maßstäbe über Großbritannien hinaus setzte sie fraglos auch mit einer Initiative, die inzwischen, nach dem Lehman-Desaster, zu den umstrittensten Aktionen ihrer Amtszeit zählen: dem "Big Bang" von 1986, der Liberalisierung der Finanzmärkte. In vielen europäischen Ländern, aber auch in den USA, eiferte man in den folgenden Jahren dem britischen Vorbild nach und befreite die Banken immer mehr von staatlichen Einschränkungen ihrer Geldgeschäfte.

Radikale Liberalisierung der Finanzmärkte gilt als gravierender Fehler

Alles zusammen: Margaret Thatcher hat Großbritannien von einem halb-sozialistischen Land zu einem der liberalsten Wirtschaftstandorte umgebaut. Und dieses Werk haben auch die Nachfolger aus der Labour Party nicht wieder zerstört. Im Gegenteil: Tony Blair hat den Kurs der Eisernen Lady erstaunlich konsequent fortgesetzt, orientiert auch am Beispiel der deutschen Sozialdemokratie, die sich schon Ende der sechziger Jahre Richtung Marktwirtschaft orientierte.

Nicht alles aber war erfolgreich. So gelang es Thatcher nicht, die Inflation nachhaltig einzudämmen; als sie abtrat, lag die Teuerungsrate bei elf Prozent. Die radikale Liberalisierung der Finanzmärkte, die allerdings so richtig erst in den Neunzigern startete, wird inzwischen als gravierender Fehler gesehen; mühsam zwingt die Politik dem Geldgewerbe nun wieder Verhaltensregeln auf. Und schließlich: Englands produzierende Unternehmen hat Thatcher nicht wieder zu einer echten Renaissance verhelfen können, sie spielen im globalen Wettbewerb eine sehr bescheidene Rolle. Internationale Bedeutung hat das Land nur noch als Finanzstandort.

"Deutschland wird künftig mit seiner Industrie einige Probleme haben", hatte sie uns in dem SPIEGEL-Gespräch 1993 mit erhobenem Zeigefinger belehrt. Die Deutschen hätten ihre Industrie "nicht in dem Maße umstrukturiert, wie wir es in Großbritannien getan haben". Inzwischen hat die deutsche Industrie die notwendigen Korrekturen längst vorgenommen und Britanniens Wirtschaft weit hinter sich gelassen.

Makellos ist die ökonomische Bilanz der gelernten Chemikerin Thatcher also keinesfalls. Aber nicht nichtsdestotrotz beeindruckend. Es gibt wenige Politiker in der Nachkriegszeit, die mit solcher Konsequenz ihre Ideen umgesetzt haben und ihren Grundsätzen treu geblieben sind. Margaret Thatcher steht mit ihrer Leistung in Friedenszeiten auf gleicher Höhe mit dem, was ein Winston Churchill in Kriegszeiten vollbracht hat. Sie hat ihr Land verändert. Und sie hat die Welt verändert.

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