Dauer-Niedrigzinsen "Die Geldpolitik macht den Kapitalismus kaputt"

Aus Angst vor einer Wirtschaftskrise halten die Zentralbanken die Zinsen niedrig. Doch genau damit schaffen sie erst die Voraussetzungen für den nächsten Crash und den Aufstieg von Populisten, sagt der Leipziger Ökonom Gunther Schnabl.
EZB-Gebäude in Frankfurt (Archiv)

EZB-Gebäude in Frankfurt (Archiv)

Foto: Boris Roessler/ dpa
Zur Person
Foto: Universität Leipzig

Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig, wo er das Institut für Wirtschaftspolitik leitet. Vor seiner Berufung an die Universität Leipzig war er als Advisor bei der Europäischen Zentralbank tätig.

SPIEGEL ONLINE: Herr Schnabl, die Europäische Zentralbank hält seit der Finanzkrise und Südeuropas Schuldenkrise die Zinsen extrem niedrig. Sie behaupten, die EZB bereite damit den Boden für den nächsten Crash. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Schnabl: Ich habe mich zu Beginn meiner Laufbahn mit Japan befasst, wo sich zwischen 1985 und 1989 eine erste große Blase entwickelte. Japans Zentralbank hatte damals die Zinsen stark gesenkt. Das sollte eigentlich die Wirtschaft und das Wachstum beleben, beförderte aber die Bildung der Blase.

Schnabl hat in den Achtziger- und Neunzigerjahren in Japan studiert. 1986 wurde er Zeuge einer Aufwertung des Yen um 50 Prozent zum Dollar. Japans Zentralbank senkte daraufhin den Leitzins, günstige Kredite sollten den Währungsschock für die Firmen abfedern. Kurz darauf kam es zu drastischen Entwicklungen an den Immobilien- und Aktienmärkten. Auf der Spitze des Booms war das Areal des Kaiserpalastes in Tokio genauso viel Wert wie sämtliche Grundstücke des US-Bundestaats Kalifornien zusammen. 1990 kam der Börsencrash: Der Nikkei stürzte um 40 Prozent ab. Die Zentralbank senkte seither den Leitzins immer weiter ab, um die Krise einzudämmen. Seit 2016 liegt er mit minus 0,1 Prozent sogar im negativen Bereich. Die Bilanz der Zentralbank wurde immens aufgeblasen. Die Konjunktur sprang dennoch nie wieder richtig an.

SPIEGEL ONLINE: Wieso ist das Kalkül nicht aufgegangen? Was ist mit dem "billigen Geld" geschehen?

Schnabl: Es wurde in andere Märkte umgeleitet. Nach dem Absturz des Nikkei 1990 haben viele japanische Banken Konzerne finanziert, die Anteil am Aufschwung Südostasiens nahmen. Die Kurse an der Börse in Malaysia verdoppelten sich ab 1992 innerhalb weniger Jahre. Dann kam der nächste Crash.

1997 brachen in Malaysia, Südkorea, Indonesien und anderswo die Aktienkurse ein. Als ein Grund gilt, dass viele Firmen in diesen Ländern ihr Wachstum auf Pump finanzierten. Das Wachstum des Kreditvolumens lag im Schnitt acht bis zehn Prozent über dem der Gesamtwirtschaft. Das Geld floss in den Aufbau von Überkapazitäten in der Industrie, befeuerte aber auch einen Boom an den Börsen und den Immobilienmärkten.

Schnabl: Nach der Asienkrise zogen viele Anleger ihr Kapital zurück und investierten stattdessen in vermeintlich sicherere Anlagen, vor allem in den USA. Alan Greenspan, damals Chef der US-Zentralbank, senkte die Zinsen, um die internationalen Finanzmärkte zu stabilisieren. Besonders gefragt waren Zukunftstechnologien. Das befeuerte die Dotcom-Blase, die im März 2000 platzte - und noch weitere Zinssenkungen auslöste.

SPIEGEL ONLINE: Was folgt daraus?

Schnabl: Danach kamen die Übertreibungen am US-Immobilienmarkt, im Süden der Eurozone und auf den Rohstoffmärkten. Wir haben es mit einer Kette wandernder Blasen zu tun, die von der Geldpolitik getrieben werden. Die neue Blase bildet sich nie dort, wo zuvor die alte geplatzt ist. Die Regierungen reagieren auf einen Crash mit schärferen Regeln, aber die Spekulation ist ihnen immer einen Schritt voraus.

SPIEGEL ONLINE: Woran machen Sie das fest?

Schnabl: Nehmen wir die Hauptschuldigen der letzten Krise: Die Banken werden inzwischen so stark reguliert, dass ihre Gewinnmöglichkeiten extrem eingeschränkt wurden, teilweise ist ihr Geschäftsmodell in Gefahr. Heute finden die Feuerwerke woanders statt: Der Dax hat seit seinem Tiefpunkt 2009 220 Prozent zugelegt, obwohl die Realwirtschaft im gleichen Zeitraum gerade einmal um 14 Prozent gewachsen ist.

SPIEGEL ONLINE: Und was werfen Sie der Europäischen Zentralbank vor?

Schnabl: Sie setzt systematisch Anreize zum Spekulieren, sodass Investitionen von Unternehmen in innovative Produkte immer mehr in den Hintergrund treten. Viele Anleger agieren nur deshalb so kühn, weil sie völlig zu Recht davon ausgehen, dass die Zentralbanken im Falle eines Crashs die schlimmsten Folgen abfedern werden (Häuser, Aktien, Luxus-Gitarren: Hier geht's zur Analyse der Markt-Exzesse). Die Niedrigzinspolitik befeuert die Blasenbildung, aber die Zentralbanker tun so, als könnten sie das nicht sehen. Sie halten an ihrem Ziel fest, die Inflation nahe bei zwei Prozent zu halten. Dabei hat ihre Politik verheerende Auswirkungen.

Die Europäische Zentralbank verfolgt das Ziel weitgehender Preisstabilität. Die Inflation lag aber, trotz der lockeren Geldpolitik, über Jahre extrem niedrig. Zuletzt hat die Inflation etwas auf 1,9 Prozent angezogen, gemessen als Veränderung der Verbraucherpreise.

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Tulpen, Häuser, Aktien: Weltwirtschaftskrisen

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Schnabl: Die Geldpolitik schlägt bei Vermögensanlagen und bei Luxusgütern durch, die von dem Verbraucherpreisindex gar nicht erfasst werden. Für unsere Gesellschaften hat das verheerende Verteilungswirkungen.

SPIEGEL ONLINE: Wie das?

Schnabl: Die ohnehin bereits Vermögenden gewinnen, weil sie Aktien haben oder Immobilien. Wer ärmer ist oder jung, verliert. Ein Beispiel: Ich habe mir 2008 in Leipzig eine Wohnung gekauft, für 1900 Euro pro Quadratmeter. Heute liegen die Preise bei 3700 Euro.

SPIEGEL ONLINE: In vielen Städten können sich Familien kein Eigenheim mehr leisten.

Schnabl: Früher war das anders: Meine Mutter hat nicht einmal studiert, mit 22 Jahren geheiratet und sich dann ziemlich schnell ein Haus im Münchner Umland gekauft. Wenn sich heute Leute mit Hochschulstudium und sicherem Job kein Eigenheim mehr leisten können, läuft etwas grundsätzlich falsch.

SPIEGEL ONLINE: Zurück zur Geldpolitik. Deren Idee war ja: Wenn die Zentralbanken Zinsen senken, kurbeln günstige Kredite die Wirtschaft an. Es gibt mehr Wachstum, mehr Jobs, mehr Wohlstand. Warum klappt das nicht?

Schnabl: Die günstigen Kredite subventionieren faktisch viele Firmen. Salopp gesagt müssen sie sich nicht mehr anstrengen. Weil die Finanzierungskosten gegen null gehen, können viele Unternehmen überleben, auch ohne gute Produkte auf den Markt zu bringen. Das lähmt das Wachstum. Es gibt kaum noch Produktivitätsgewinne, die Voraussetzung für reale Lohnerhöhungen sind. Die Geldpolitik macht den Motor des Kapitalismus kaputt.

Evergreening nennen Finanzfachleute die Strategie, durch Endloskredite auch Firmen zu stützen, die eigentlich am Markt kaum Chancen haben. Die Deutsche Bank nennt sie in einer Analyse Zombie-Unternehmen. Die Geldpolitik der Notenbank habe "Kreditnehmern mit der geringsten Bonität einen überproportionalen Nutzen gebracht", kritisieren die Analysten "die dunklen Seiten der EZB-Politik". Diese Politik verhindere, was so nötig wäre: dass ein Prozess der schöpferischen Zerstörung in Gang kommt, in dem Altes überwunden und Neues erschaffen wird. So aber überleben genau jene Unternehmen, die es nicht verdient haben.

SPIEGEL ONLINE: Viele Fachkollegen würden widersprechen: Nobelpreisträger Robert Shiller etwa sieht zwar ebenfalls Anzeichen für neue Blasen. Der treibende Faktor sei aber die Angst vieler Menschen vor der Zukunft und einem möglichen "Ende des Wachstums" (Interview mit Robert J. Shiller: Die Angst treibt die Kurse nach oben).

Schnabl: Das ist eine vor allem in den USA beliebte These. Die Angst vor dem Ende der Arbeit hat sich aber noch nie als begründet erwiesen. Wenn in Zukunft intelligente Roboter in Massenproduktion gehen und viele Arbeiter ersetzen, dann eröffnet das Wachstumschancen im Dienstleistungssektor. Shiller hat recht, die Leute sind verunsichert. Die Frage ist aber: Wo kommt diese Verunsicherung in Wahrheit her?

SPIEGEL ONLINE: Donald Trump hat die Globalisierung als Schuldigen ausgemacht.

Schnabl: Er zeigt auf Mexiko und China. Das ist für die Leute leichter zu verstehen, aber falsch. Globalisierung schafft Wohlstand, weil sie zu Produktivitätsgewinnen führt. Es ist die Geldpolitik, die viele Menschen zu Verlierern macht.

SPIEGEL ONLINE: Was müsste anders laufen?

Schnabl: Die lockere Geldpolitik müsste ein Ende finden, wenn die Konjunktur nach einem Crash wieder anspringt. Den Punkt haben wir längst überschritten. Politik und die Zentralbanken schrecken aber davor zurück, die nötige Wende einzuleiten. Sie fürchten, den Aufschwung wieder zu schädigen. Dazu kommt: Die Politik des lockeren Geldes dauert inzwischen schon rund drei Jahrzehnte an. Die Anpassungslasten für einen Kurswechsel sind enorm.

SPIEGEL ONLINE: Sind weitere Crashs unausweichlich?

Schnabl: Es gilt: Entweder ein Ende mit Schrecken - oder ein Schrecken ohne Ende. Die Verteilungseffekte dieser Geldpolitik befördern die aktuelle politische Radikalisierung. Es entstehen große Gruppen extrem unzufriedener Bürger. Diesen Menschen ist nicht bewusst, was die Gründe für ihre Misere sind, aber ihre Stimmung wird immer gereizter. Das ist Nährboden für populistische Strömungen. Im besten Falle werden die etablierten Parteien erkennen, warum sie immer weiter an Stimmen verlieren - und dann umsteuern.

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