Mario Monti zur EU "Deutsche Führung ist schon heute Realität"

Vielen Europäern ist Deutschland in der EU zu mächtig. Doch der italienische Ex-Premier Mario Monti warnt die Populisten vor ihren Abspaltungsrufen: Allein wäre das Land erst recht gefährlich dominant.
Mario Monti, Italiens Ex-Premier und früherer EU-Kommissar (Archiv)

Mario Monti, Italiens Ex-Premier und früherer EU-Kommissar (Archiv)

Foto: ERIC GAILLARD/ REUTERS

SPIEGEL ONLINE: Herr Monti, die Briten haben für den Brexit gestimmt, die Amerikaner für den Freihandelsgegner Donald Trump. In den Niederlanden und Frankreich haben rechte Parteien bei den kommenden Wahlen gute Chancen. Was läuft falsch in der Politik des Westens?

Monti: Die politischen Systeme fokussieren sich immer stärker auf kurzfristige Ziele. Die politische Debatte wird immer schneller. Alles muss in einen Zehn-Sekunden-Sendeplatz im TV passen, in einen 140-Zeichen-Tweet. Vereinfachungen - und oftmals zu starke Vereinfachungen - prägen die politische Kultur. Gleichzeitig werden die Probleme aber immer komplexer und benötigen langfristige Lösungen. Hinzu kommt, dass es in den wenigsten Ländern noch echte Anführer gibt.

Zur Person
Foto: Michel Euler/ AP

Mario Monti, geboren 1943, ist Wirtschaftsprofessor. Von 1995 bis 2004 war er EU-Kommissar, 2011 bis 2013 amtierte er als Premierminister einer italienischen Experten-Regierung.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie damit?

Monti: Zu viele Politiker versuchen, den kurzfristigen Wünschen der Wähler zu entsprechen, statt Visionen zu entwerfen und sie mit Argumenten zu überzeugen. Sie führen nicht mehr, sie rennen hinterher. Heute ist der Politiker am erfolgreichsten, der am schnellsten den wechselnden Forderungen der Wählerschaft folgt.

SPIEGEL ONLINE: Speist sich der Populismus nicht auch aus dem Gefühl vieler Bürger, von der Politik betrogen und vergessen worden zu sein?

Monti: Absolut. Politiker schauen zu wenig darauf, was tatsächlich gut wäre für ihre Länder und Europa - und zu viel danach, was gut ankommt bei den nächsten Wahlen.

SPIEGEL ONLINE: Der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) weht gerade massiver Gegenwind ins Gesicht. Ihr wird ein Alleingang in der Flüchtlingspolitik vorgeworfen.

Monti: Verglichen mit anderen europäischen Spitzenpolitikern ist Merkel viel stärker eine Anführerin - wenn auch auf ihre eigene, manchmal langsame und sehr ruhige Art. Sie hat gewusst, dass ihre Entscheidungen ihrer Popularität schaden würden.

Merkel, Monti (2012)

Merkel, Monti (2012)

Foto: Andrew Medichini/ AP

SPIEGEL ONLINE: Der Politikstil, den Sie kritisieren: Wie wirkt der sich aus auf die aktuelle Politik in der EU?

Monti: Bildlich gesprochen kamen früher die nationalen Politiker nach Brüssel, und jeder brachte jedes Mal einen Backstein mit, um am Bau des europäischen Hauses mitzuhelfen. Ihnen war bewusst: Das ist in unserem nationalen Interesse. Heute versuchen die meisten, in Brüssel ein paar Steine herauszubrechen in der Hoffnung auf ein bisschen Applaus daheim.

SPIEGEL ONLINE: Viele Bürger sind desillusioniert von Europa. Wie gewinnt man deren Liebe zurück?

Monti: Natürlich müssen die EU-Institutionen besser werden, aber EU-Parlament, Kommission, EZB und der Gerichtshof leisten ordentliche Arbeit. Es liegt jedoch vornehmlich nicht an ihnen, dass Europa Defizite hat. Die wichtigste Institution der EU ist ja noch immer der Europäische Rat, und darin sitzen die Chefs der nationalen Regierungen. Wenn also ein Premierminister verkündet, "Europa muss aufwachen und endlich liefern!", ist das hochgradig irreführend. In Wahrheit müssten die Anführer der Nationalstaaten im Rat stattdessen sagen: "Wir müssen aufwachen und liefern."

SPIEGEL ONLINE: Machen Sie sich Sorgen um Ihre Heimat Italien? Das Land steht noch immer am Rande einer neuen Finanzkrise.

Monti: Italien mag nicht das stärkste Land in der Eurozone sein. Am Tag nach dem Brexit wollten viele angelsächsische Reporter von mir wissen, ob Italien das nächste große Problem sein würde. Damals stand das Verfassungsreferendum des damaligen Premierministers Matteo Renzi an. Die Mehrheit war dagegen - übrigens ich auch. Ich habe schon vorher gesagt, dass ich keine Auswirkungen auf die Finanzmärkte erwarte. Das war dann ja auch der Fall.

SPIEGEL ONLINE: Die Risikoaufschläge auf italienische Anleihen steigen aber wieder im Vergleich zu deutschen.

Monti: Italiens Banken haben Probleme, dazu zählt ein relativ hoher Anteil von notleidenden Krediten. Im Schnitt steht es um Italiens Geldhäuser aber nicht schlechter als in anderen Ländern. Anders als deutsche Banken haben die italienischen auch nie besonders hochspekulativen Geschäften gefrönt. Aber ja, die Rezession hat in Italien länger gedauert als anderswo, das erhöht den Anteil notleidender Kredite.

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SPIEGEL ONLINE: Wird Italien Teil der Währungsunion bleiben?

Monti: Ich habe keinen Zweifel daran. Derzeit wird das neben Italien auch in Frankreich diskutiert. Dort leiden wohl einige an Gedächtnisschwäche. Da wollen viele raus aus der Eurozone, weil sie meinen, sie würden über Gebühr beeinflusst von deutschem Denken in der Wirtschaftspolitik. Was sie vergessen: Es war ja nie Deutschland - mit Ausnahme Helmut Kohls -, das eine gemeinsame Währung wollte.

SPIEGEL ONLINE: Den Deutschen widerstrebte der Abschied von der D-Mark.

Monti: Es waren hauptsächlich Italien und Frankreich, die befürchteten, dass Europa kein sicherer Ort sein könnte, wenn Deutschland nicht nur das stärkste Land ist, sondern auch über die stärkste Währung verfügt. Marine Le Pen hat davon vermutlich noch nie etwas gehört.

SPIEGEL ONLINE: Was passiert, wenn Le Pen mit ihrem Front National doch an die Macht kommt?

Monti: Ich glaube nicht daran, aber: Sollte Frankreich den Euro verlassen, wäre das ein großes Problem für ganz Europa. In diesem Fall könnten manche in Frankreich kurzzeitig Explosionen nationalen Stolzes empfinden, weil sie sich nicht mehr 'diesen deutschen Regeln' beugen müssen. Das Gleiche könnte für Italien gelten, falls das Land die Eurozone verlassen würde. Bald würden dann aber alle realisieren: Ein Ende der Eurozone oder das Ausscheren Frankreichs oder Italiens würde Deutschlands Gewicht auf dem Kontinent nicht verringern. Im Gegenteil: Die einzigen Instanzen, die Deutschland heute wie allen anderen Mitgliedstaaten Disziplin auferlegen können - die EU-Kommission, die EU-Justiz -, würden verschwinden. Deutschlands objektiv dominante Stellung in Europa aber bliebe intakt, aber außerhalb eines gemeinsamen Regelrahmens.

Monti und SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Giorgos Christides auf dem Delphi Economic Forum

Monti und SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Giorgos Christides auf dem Delphi Economic Forum

Foto: VDouros-Creatives Pro

SPIEGEL ONLINE: Anders herum gefragt: Glauben Sie, dass Deutschland bereit ist, mehr Führung zu übernehmen?

Monti: Eine Art von deutscher Führung ist schon heute Realität. Wir sind uns aber einig darüber, dass Deutschland zögert, als Anführer angesehen zu werden. Es würde die Dinge erleichtern, wenn Deutschland klarer die Rolle des verantwortungsbewussten Anführers übernehmen würde. Das muss nicht zwangsläufig den Umbau der EU in eine Transferunion bedeuten, was die Deutschen so sehr fürchten. Deutschland müsste aber seine langfristigen Interessen an einer starken EU breiter und umfassender definieren. Deutschlands wichtigstes Ziel ist, im Zentrum einer soliden, facettenreichen und ausbalancierten EU zu stehen.

SPIEGEL ONLINE: Was muss dafür passieren?

Monti: Die Deutschen müssen verstehen: Was sie als eigene Opfer ansehen, sind keine Opfer, sondern Taten im eigenen Interesse. Zwei Beispiele: Berlin sollte die EU-weiten Sorgen angesichts von makroökonomischen Ungleichgewichten ernst nehmen und seinen großen Binnenmarkt für Dienstleistungen liberalisieren. Das würde das Wachstum in Deutschland und die Importe befeuern. Es wäre auch gut, wenn Deutschland einige Änderungen am Stabilitätspakt akzeptieren würde. Wir brauchen mehr Raum für Investitionen der öffentlichen Hand. Im Gegenzug könnte Deutschland darauf pochen, dass die EU weniger nachlässig gegenüber Ländern wie Spanien und Frankreich agiert, die permanent den Stabilitätspakt verletzen.

SPIEGEL ONLINE: Defizite und neue Schulden sind in Deutschland schwer durchzusetzen.

Monti: Sie hassen das! Sie sprechen ja auch die einzige Sprache, in der für debt (finanzielle Schuld) und guilt (moralische Schuld) dasselbe Wort benutzt wird. Finanzielle Schulden sind unter dieser Prämisse etwas Schlechtes - eine Sünde! Aber das trifft doch nicht zu, wenn sie aufgenommen werden, um wichtige Investitionen vorzunehmen, noch dazu in Zeiten so geringer Zinsen.

Obama, Monti (2012)

Obama, Monti (2012)

Foto: Charles Dharapak/ AP

SPIEGEL ONLINE: Das hört sich sehr nach Wirtschaftstheorie an, wie sie der britische Ökonom John Maynard Keynes gelehrt hat: Der Staat kurbelt die Wirtschaft auf Pump an, die daraus resultierenden Wohlfahrtsgewinne würden dann aber bald die ursprünglichen Schulden überkompensieren.

Monti: Nicht unbedingt. Während meiner Zeit als italienischer Premierminister wollte US-Präsident Barack Obama mal von mir wissen, wie ich mit den Diskussionen zur Wirtschaftspolitik mit Angela Merkel klarkomme. Er selbst empfand es als schwierig, mit ihr darüber zu diskutieren. Seine Wirtschaftsexperten rieten damals, Deutschland sollte mehr Schulden machen und so die Nachfrage ankurbeln. Ich habe Obama gesagt: "Vergessen Sie die Ratschläge Ihrer Keynesianer. Sie dürfen niemals vergessen, dass Wirtschaftswissenschaften für die meisten Deutschen ein Zweig der Moralphilosophie ist." Die Deutschen halten Wachstum noch immer für die natürliche Belohnung ethisch guten Handelns.

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