Mega-Bahn-Projekt Was für "Stuttgart 21" spricht - und was dagegen

"Stuttgart 21"-Protest: Kosten von zehn Milliarden Euro?
Foto: Bernd Weissbrod/ dpaBerlin - Zehn Milliarden Euro für 60 Kilometer Bahnstrecke, das ist schon ein Wort. Zu dieser Summe könnten sich die Baukosten für die neue ICE-Verbindung von Wendlingen nach Ulm addieren, wenn man den Ausführungen der Verkehrsplaner Vieregg und Rössler folgt. Im Auftrag der Landtags- und der Bundestagsfraktion der Grünen haben die Berater das Projekt noch einmal durchgerechnet - und stellten dabei sämtliche Annahmen der Deutschen Bahn in Frage.
Ihr Ergebnis: Im günstigsten Fall stehen am Ende der mehr als acht Jahre veranschlagten Bauzeit inklusive Inflation rund 5,3 Milliarden Euro auf der Rechnung - deutlich mehr als die von der Bahn in der jüngsten Kalkulation ausgewiesenen 2,89 Milliarden Euro. Allerdings halten es die Gutachter selbst für eher unwahrscheinlich, dass der errechnete Aufpreis ausreicht. Im Ernstfall könnten die Kosten sogar auf rund zehn Milliarden steigen.
Als Kostentreiber identifizierte Gutachter Martin Vieregg insbesondere den aufwendigen Tunnelbau. Die Bahn habe bisher die Kosten für einen Kubikmeter Tunnel auf etwa ein Viertel der Kosten veranschlagt, die sie für die ICE-Strecke Ingolstadt-Nürnberg veranschlagt habe. Dabei seien die geologischen Verhältnisse am Albaufstieg in Baden-Württemberg viel schwieriger.

Stuttgart 21: Ein Bahnhof wird tiefergelegt
Ein Argument, das Günter Prager von der Universität Innsbruck bestätigt. "Wenn der Tunnel durch Gesteinsschichten unterschiedlicher Härte führen soll, dann wird das Verfahren sehr aufwendig." Hohlräume oder wasserführende Schichten stellten weitere große Herausforderungen dar. Eine seriöse Schätzung der Kosten sei deshalb gar nicht möglich.
Für Winfried Hermann, den Verkehrsexperten der Grünen im Bundestag, ist die Sache damit klar: "Das Gesamtprojekt wird fast das Doppelte von dem kosten, was politisch beschlossen wurde. Die Entscheidungen sind also in Unkenntnis der wahren Kosten getroffen worden." Daher müsse CSU-Verkehrsminister Peter Ramsauer die Neubaustrecke und damit auch "Stuttgart 21" stoppen. "Hier gilt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende."
Aus Sicht der Bahn sind solche Forderungen aus der Luft gegriffen. Die Berechnung von Vieregg-Rössler entbehre jeder Grundlage, sagt Bahn-Sprecher Martin Walden. Das Gutachterbüro habe schon in der Vergangenheit Kostenberechnungen angestellt, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen hätten. Dagegen gebe es viele gute Gründe, die für das Projekt sprächen.
Aber wie sehen diese Gründe aus? Und was spricht gegen "Stuttgart 21"? In der aufgeheizten Stimmung ist die sachliche Diskussion oft in den Hintergrund getreten. SPIEGEL ONLINE trägt deshalb die wichtigsten Punkte der Befürworter und der Gegner zusammen.
Die Argumente der Anhänger von "Stuttgart 21"
Die Argumente der Anhänger von "Stuttgart 21":
- Größere Kapazität: Mit dem Neubau würde ein echtes Nadelöhr für den Zugverkehr beseitigt: Dass der Stuttgarter Kopfbahnhof in seiner jetzigen Form an Grenzen stößt, bestreiten auch die Gegner des "Projekts 21" nicht. Ein neuer Durchgangsbahnhof würde deutlich mehr Zugabfertigungen pro Tag ermöglichen, die bisherigen Staus im Vorfeld des Bahnhofs würden der Vergangenheit angehören. Ein Durchgangsbahnhof ist außerdem deutlich sicherer als ein Kopfbahnhof, in dem die Züge direkt auf das Bahnhofsgebäude zufahren.
- Einfaches Umsteigen: Der neue Bahnhof würde die Umsteigewege deutlich verkürzen und damit beschleunigen. Die langen Wege in einem Kopfbahnhof mit Bahnsteigen von bis zu 400 Metern Länge machen kurze Zeittakte zwischen Anschlusszügen unmöglich.
- Internationale Anbindung: "Stuttgart 21" würde den Anschluss an den europäischen Schnellbahnverkehr ermöglichen. Dazu gehört unter anderem auch die Verbindung Paris-Budapest. Auch der Stuttgarter Flughafen würde davon profitieren, weil er direkt an die Schnellbahntrasse angebunden werden könnte.
- Ausbau des Regionalverkehrs: Der Durchgangsbahnhof ermöglicht eine umsteigefreie Durchfahrt von Regionalzügen. In der Region würde ein neues Liniennetz entstehen, das dem der S-Bahn gleicht. Damit würde auch die Attraktivität für Berufspendler erhöht.
- Stadtentwicklung: Für die Stuttgarter Innenstadt ergäben sich vollkommen neue Möglichkeiten, wenn die Gleisanlagen unter die Erde verlegt werden. Mehr als hundert Hektar stünden für die Erweiterung des Schlossgartens und des Rosensteinparks und für Neubauten im Innenstadtbereich zur Verfügung. Ganze Stadtteile, die bislang getrennt waren, würden zusammenwachsen.
- Arbeitsplätze: Die Neugestaltung der Innenstadt könnte langfristig viele neue Arbeitsplätze entstehen lassen. Nach Angaben der Bahn könnten es bis zu 10.000 werden. Und die hohen Investitionen durch das Projekt selbst verleihen der Region bereits während der Bauphase neue Impulse.
Die Argumente der Gegner von "Stuttgart 21"
Die Argumente der Gegner von "Stuttgart 21":
- Günstigere Alternative: Der Kopfbahnhof muss nicht zwangsläufig aufgegeben werden. Er könnte auch modernisiert werden - wofür ein Bruchteil der veranschlagten Kosten von "Stuttgart 21" reichen würde. Das frei werdende Geld könnte für Bildung, Gesundheit oder soziale Projekte verwendet werden.
- Geldvernichtung: Weil "Stuttgart 21" so teuer ist, hat die Bahn für andere wichtige Infrastrukturprojekte auf Jahre hinaus kein Geld mehr. Dazu gehören die chronisch überlastete Rheintal-Schiene, ebenso wie die Strecke Frankfurt-Mannheim. Wichtig wäre auch der Ausbau verschiedener Güterverkehrsstrecken, der nun vermutlich aufgeschoben wird.
- Lärm und Abgase: Die Großbaustelle würde die Innenstadt auf Jahre hinaus ins Chaos stürzen. Lärm, Abgase und Staub würden den Bewohnern stark zusetzen.
- Verschandelung des Stadtbilds: Im Schlossgarten würden Hunderte alte Bäume gefällt und große Freiflächen zubetoniert. Die hochbauenden Lichtschächte für den unterirdischen Bahnhof würden das Stadtbild verschandeln.
- Infrastruktur: Verkehrspolitisch wird "Stuttgart 21" die Erwartungen nicht erfüllen, weil es kaum Möglichkeiten für Erweiterungen bietet. Weil die Zahl der Zubringergleise stark reduziert werden soll, dürfte es zu langen Wartezeiten für die Züge kommen, die in den Bahnhof einfahren wollen. Vier Bahnsteige, an denen jeweils mehrere Züge hintereinander halten, sorgen für beengte Platzverhältnisse für die Reisenden.
- Zeitersparnis zweifelhaft: Die Zeitersparnis für den Weg nach Ulm steht in keinem Verhältnis zum Aufwand, der dafür geplant ist. Aber auch die Streckenführung gibt massiven Anlass für Kritik. Für die Hochgeschwindigkeitszüge sind die Kurven viel zu eng, an einigen Stellen erzwingen Steigung oder Gefälle eine geringere Geschwindigkeit. Als Alternative bietet sich der Ausbau der bestehenden Strecke und der Einsatz von Neigetechnikzügen an.
- Einseitige Nutzung: Überholzonen sind nicht geplant, die Nutzung der Neubaustrecke für Güterzüge ist also offensichtlich nicht vorgesehen. Der Güterverkehr braucht aber dringend neue Streckenkapazitäten.
- Europäische Schnellzugverbindung in weiter Ferne: Die Fortsetzung der Strecke von Ulm nach Freilassing bei Salzburg ist nicht einmal im Planungsstadium, verschiedene Streckenführungen durch Bayern lehnen die Behörden strikt ab. Die Verbindung Wendlingen-Ulm würde das Projekt "Europäische Magistrale" also nicht wirklich voranbringen.
- Baurisiken: Der Bau von rund 60 Kilometern Tunnel birgt unkalkulierbare technische und finanzielle Risiken.