Wenig Aufstieg möglich Das gebrochene Versprechen der sozialen Marktwirtschaft

Deutschlands sozialer Lift ist kaputt: Immer weniger Bürgerinnen und Bürgern gelingt der Aufstieg in höhere Einkommensgruppen – und zwischen den Generationen öffnet sich eine Kluft.
Spaziergänger an der Elbe in Hamburg: Im Gegenlicht erkennt man die Unterschiede nicht

Spaziergänger an der Elbe in Hamburg: Im Gegenlicht erkennt man die Unterschiede nicht

Foto: Christian Charisius / dpa

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Die Zahlen sind ernüchternd: Die Mittelschicht ist in den vergangenen 25 Jahren in Deutschland stärker geschrumpft als in jedem anderen vergleichbaren Industrieland der Welt. Der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtbevölkerung lag 1995 noch bei 70 Prozent, heute sind es nur noch 64 Prozent. Selbst in den Vereinigten Staaten, wo der ökonomische Abstieg der weißen Mittelklasse als einer der Gründe für das Erstarken von Rechtspopulisten wie Donald Trump gilt, fiel der Rückgang der Mittelschicht deutlich geringer aus. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Studie der Industrieländer-Organisation OECD und der deutschen Bertelsmann Stiftung.

»Die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft sind immer weniger in der Lage, das soziale Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen.«

Bertelsmann Stiftung

Unter den 26 OECD-Mitgliedern finden sich nur drei deutlich kleinere Länder, in denen die Gruppe der Bürger mit mittleren Einkommen noch stärker unter Druck geraten ist: Schweden, Finnland und Luxemburg. Mit Deutschland eher vergleichbare Industriestaaten wie Frankreich und Italien haben besser abgeschnitten. Besonders bemerkenswert: Gewachsen ist die Mittelschicht nicht nur in Staaten des ehemaligen Ostblocks wie Polen, sondern auch in Österreich, Belgien und Großbritannien.

Droht Deutschland also der Verlust seiner ökonomischen und sozialen Mitte? Die Antwort der Studienautoren auf diese Frage fällt differenziert aus. Das hat zum einen damit zu tun, dass sich die Wirtschaft in Deutschland in dem sehr langen Untersuchungszeitraum sehr unterschiedlich entwickelt hat. Und es hat damit zu tun, dass die Mittelschicht in Wahrheit eine ausgesprochen vielschichtige Gruppe ist.

Die Forscher definieren sie nach der Höhe der Einkommen der Bürger: Teil der Mittelschicht ist zunächst einmal, wer zwischen 75 und 200 Prozent des mittleren verfügbaren Einkommens ausgeben kann. Umgerechnet in Eurowerte entspricht das in etwa 1500 bis 4000 Euro für Singles und 3000 bis 8000 Euro für Paare mit zwei Kindern.

Diese Gruppe haben die Wissenschaftler wiederum in drei Untergruppen unterteilt: die »untere Mittelschicht« (75 bis 100 Prozent), die »mittlere Mitte« (100 bis 150 Prozent des Medianeinkommens) und die »obere Mitte« (150 bis 200 Prozent). Wer mehr Geld verdient, gehört zu den »hohen Einkommen«. Wer weniger zur Verfügung hat, ist »einkommensarm« (weniger als 50 Prozent) oder »armutsgefährdet« (50 bis 75 Prozent).

Die gute Nachricht lautet: Die Schrumpfung der Mittelschicht, von der die Forscher berichten, hat sich im Kern schon vor langer Zeit vollzogen, in den Jahren von 1995 bis 2005 (zu diesem Ergebnis kam vor Kurzem auch eine andere Untersuchung). Das war das »schwarze Jahrzehnt« der deutschen Mittelschicht, geprägt von Massenarbeitslosigkeit und Reallohnverlusten. Damals hießen die Kanzler noch Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) und Deutschlands Wirtschaft wurde teilweise als »kranker Mann Europas« bezeichnet. Alles graue Vergangenheit also?

Die schlechte Nachricht lautet, dass die Mittelschicht sich von diesen Verlusten seither auch nie mehr erholt hat. Selbst nach dem 2010 einsetzenden Aufschwung und trotz des Jobbooms ist ihr Anteil nicht wieder gewachsen.

Der Lift fährt (fast) nur nach unten

Neben dem Umfang der Mittelschicht ist bedeutsam, wie hoch die Chancen von Bürgern sind, von einer Gruppe in die nächsthöhere aufzusteigen – und das Risiko des Abstiegs. Wissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von »sozialer Mobilität« oder auch von einem »sozialen Lift«. Im Falle Deutschlands gibt es mit diesem Aufzug ein erhebliches Problem: Er befördert immer häufiger Bürger nach unten – und nur sehr wenige nach oben.

So sind die real verfügbaren Einkommen von Haushalten in Deutschland zwischen 1995 und 2018 um durchschnittlich 17 Prozent gestiegen. Diese Gewinne sind aber extrem ungleich verteilt: Die obersten zehn Prozent der Einkommensverteilung haben 28 Prozent mehr Geld zur Verfügung. Die Einkommen von Geringverdienern hingegen sind in mehr als zwei Jahrzehnten um gerade einmal sieben Prozent gestiegen.

»Die Institutionen der sozialen Marktwirtschaft sind immer weniger in der Lage, das soziale Aufstiegsversprechen tatsächlich einzulösen«, konstatiert die Bertelsmann Stiftung. Vor allem für die »untere Mitte« ist das Risiko des ökonomischen Abstiegs groß: Zwischen 2014 und 2017 rutschten 22 Prozent aus dieser Gruppe ab und waren arm oder von Armut bedroht. Zugleich haben sich die Chancen, aus der Armut den Aufstieg in die Mittelschicht zu schaffen, in den vergangenen Jahren drastisch verschlechtert, von 40 auf 30 Prozentpunkte. »Wer aus der Mittelschicht herausfällt, hat es heute deutlich schwerer, wieder aufzusteigen«, sagt Valentina Consiglio, Arbeitsmarkt-Expertin der Bertelsmann Stiftung.

Erschwerend hinzu kommt, dass von Wirtschaftskrisen Beschäftigte mit geringen Einkommen häufig stärker getroffen werden, als Gutverdiener. Dieses Muster hat sich in der Coronarezession bestätigt: In den unteren Einkommensgruppen waren besonders viele von Entlassungen und Kurzarbeit betroffen, die ökonomische Erholung setzte bei ihnen auch viel später ein.

Die Last der Jüngeren

Die Studie zeichnet zudem das Bild einer sozialen Kluft, die sich zwischen den Generationen auftut: So ist der Anteil der 18- bis 29-Jährigen, die es in die Mittelschicht geschafft haben, in den vergangenen Jahrzehnten um zehn Prozentpunkte gesunken. Unter den sogenannten Babyboomern, die zwischen 1955 und 1965 geboren wurden, erreichten noch 71 Prozent nach dem Start ins Arbeitsleben den Sprung in die Mittelschicht. Bei den Millennials (Jahrgänge 1983 bis 1996) hingegen trifft das nur noch für 61 Prozent zu.

Starke Unterschiede zeigen sich auch je nach Bildungsstand: Wer kein Abitur oder eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen kann, schaffte es früher noch in 61 Prozent der Fälle in die Mittelschicht. Heute liegt dieser Wert nur noch bei 40 Prozent. Das Abstiegsrisiko in den unteren Einkommensgruppen könnte in Zukunft wegen des technologischen Fortschritts sogar noch wachsen. Schätzungen zufolge sind etwa 17 Prozent der Beschäftigten in der Mittelschicht in Deutschland dem Risiko ausgesetzt, dass Roboter, Maschinen oder Algorithmen ihre Arbeit übernehmen könnten. In der unteren Einkommensgruppe liegt dieses Risiko allerdings mit 22 Prozent noch höher.

Was nun, was tun?

Der Druck auf die (untere) Mittelschicht wird also womöglich noch zunehmen. Die Studienautorinnen schlagen deshalb eine Reihe von Maßnahmen vor. Weil es immer häufiger zwei gute Gehälter braucht, um als Paar oder Familie zur Mittelschicht zu gehören, müssten Löhne und Jobchancen von Frauen verbessert werden. Daneben sollte eine Ausbildungsgarantie für junge Leute unter 25 eingeführt werden.

Vor allen Dingen aber müssen die Rahmenbedingungen für lebenslanges Lernen in Deutschland verbessert werden. Ein Problem ist bisher: Viele Familien können es sich bislang oft weder finanziell noch zeitlich leisten, dass ein Verdiener für eine Weiterbildung längere Zeit ausfällt. Andere Länder sind da weiter: So können in Österreich Beschäftigte zwei bis zwölf Monate Bildungsurlaub nehmen und in der Zeit Unterstützung in Höhe der Arbeitslosenhilfe beziehen. Es sei allerdings auch wichtig, die »extrem fragmentierte Weiterbildungslandschaft in Deutschland« weiter auszubauen, so Bertelsmann-Expertin Valentina Consiglio.

Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien hat die Arbeitsmarkt-Forscherin einige vielversprechende Ansätze entdeckt. So wird von SPD, Grünen und FDP eine Ausbildungsgarantie, die allen jungen Menschen den Zugang zu einer Ausbildung ermöglichen soll, erwähnt. Auch die geplanten umfangreichen Investitionen in Digitalisierung und Infrastruktur hätten das Potenzial, »zu einem Jobmotor für die Mittelschicht zu werden«, sagt Consiglio.

Anderes hingegen bewertet sie kritisch. Dazu gehört die Anhebung der Verdienstgrenze für steuerfreie Minijobs von 450 auf dann 520 Euro. Dabei handele es sich um eine »Subvention weniger produktiver Beschäftigung«. Vor allen Dingen für viele Frauen seien Minijobs in Wahrheit eine fatale Falle, weil es für Minijobber kaum betriebliche Weiterbildungsangebote oder Aufstiegsmöglichkeiten gebe.

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