S.P.O.N. - Die Spur des Geldes Nur noch eine Ehe auf dem Papier

Der Streit mit dem britischen Premier Cameron über den neuen EU-Kommissionschef erklärt alles: Die Trennung Großbritanniens von der Europäischen Union ist längst vollzogen. Jetzt geht es nur noch um Vertragliches.

Es gibt wenige Spitzenpolitiker, die sich so oft verkalkulieren wie David Cameron. So sollte etwa das vom britischen Premierminister angekündigte Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union ein Befreiungsschlag für seine Partei sein. Doch Cameron hat damit genau das Gegenteil erreicht. Die britischen Konservativen haben jetzt auch noch die AfD in ihre Gruppe im EU-Parlament aufgenommen. Oder die Sache mit Jean-Claude Juncker. Ich bin selbst kein Befürworter des Luxemburgers für das Amt des Kommissionspräsidenten. Cameron hatmit seiner übermäßig aggressiven Kritik an Juncker aber bewirkt, was er explizit verhindern wollte: Juncker ist jetzt klarer Favorit für das Amt.

Was sich vor unseren Augen abspielt, ist die nächste Eskalationsstufe der britischen Entfremdung von der EU. Cameron ist da kein Einzelfall. Die Regierung, die Opposition, die Medien, die Intellektuellen, die Wirtschaft - auch die, die sich proeuropäisch nennen -, sind sich alle weitgehend einig. So wie Cameron gegen Juncker wettert, hetzte die Labour-Partei gegen Martin Schulz, Junckers deutschem Gegenkandidaten. Es geht in der britischen Debatte nicht um links und rechts. Es geht nicht um Inhalte. Die jeweiligen Spitzenkandidaten waren den Briten schlicht zu europäisch. Britische Journalisten berichten seit Wochen, Juncker sei chancenlos. Das ist wie mit Morgensterns unmöglicher Tatsache: "Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf."

Der Grad britischer Entfremdung wurde mir erneut vergangene Woche bewusst während der Jahrestagung des European Council on Foreign Relations in Rom. Fast alle dort anwesenden Briten waren gegen Juncker, fast alle anderen waren für Juncker oder wie ich zumindest für das System der Spitzenkandidaten. Mich schockierte, dass sich von den Briten kaum einer für die europäischen Verträge interessierte.

Dort ist die Wahl des Kommissionspräsidenten eindeutig beschrieben: Danach ernennt der Europäische Rat den Kommissionspräsidenten, und das Parlament wählt. Vorher muss der Rat das Parlament konsultieren. Das ist ähnlich wie mit der Ernennung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten. Im Verfassungsrecht haben Ausdrücke wie "ernennen", "wählen" und "konsultieren" präzise Bedeutungen, die man in England entweder nicht kennt oder nicht wahrhaben will. Mir sagte ein Vertreter der britischen Regierung, dass er die Klausel so interpretiert: Der Rat wählt, das Parlament bestätigt. Für ihn ist es also genau andersrum.

Woher kommt diese Entfremdung von Europa? Die Ursachen liegen tief. Für mich war der Auslöser der Rausschmiss aus dem europäischen Währungsmechanismus 1992. Da war klar, dass Großbritannien dem Euro nicht beitreten würde. Ein Jahr zuvor hatten sich die Briten schon in den Maastrichter Verhandlungen ausbedungen, nicht automatisch beitreten zu müssen.

Langwieriger Scheidungsprozess

Man muss den Briten eines zugute halten. Sie haben verstanden, dass eine Währungsunion einen tiefen Grad der Integration braucht. Genau deswegen wollten sie nicht mitmachen. Was sie falsch einschätzten, waren die Auswirkungen auf Länder wie sie selbst. Ein Kollege von mir sprach mal vom Euroraum als einem Klub in einem Klub. Ich sagte ihm damals, dass das Bild hinkt. Denn der innere Klub werde gezwungen sein, Macht an sich zu reißen und den äußeren Klub vor vollendete Tatsachen zu stellen. Und genauso kam es. Während die Briten immer noch auf dem europäischen Binnenmarkt herumpochten, hat die Integration für die anderen schon eine neue Phase erreicht. Sie wollen die wirtschaftspolitische Koordination. Die Briten träumen von einem liberalen Markt für ihre City of London. Die anderen beschlossen eine Bankenunion mit starken Kontrollen.

Kommt es jetzt zum offenen Bruch? Auch eine unglückliche Mitgliedschaft in der EU bringt materielle Vorteile, zum Beispiel die Freizügigkeit der Bürger bei der Wahl des Wohnsitzes und natürlich der unbehinderte Marktzugang. Ein Austritt würde nicht unbedingt alle Errungenschaften der Integration in Frage stellen. Laut dem Lissabonner Vertrag sind die Bedingungen für einen Austritt frei verhandelbar. Das wiederum stellt die proeuropäischen Briten vor ein Dilemma. Alle Rechnungen über die Kosten eines Austritts sind per Definition hypothetisch und daher angreifbar.

Ein besseres Bild als der "Klub im Klub" ist das eines langwierigen Scheidungsprozesses. Die Trennung ist aufgrund unüberbrückbarer Differenzen längst vollzogen. Man ist formell noch verheiratet. Es geht jetzt nur um Vertragliches. Ob die Briten im Fegefeuer der EU verharren oder formell den Ort wechseln, ist am Ende nicht wirklich wichtig.

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Foto: SPIEGEL ONLINE
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