Geopolitik So destabilisiert der Ölpreis-Crash die Welt
Der Ölpreis ist auf ein historisches Tief gefallen und könnte lange dort verharren. Das destabilisiert ganze Weltregionen. Eine Übersicht, welche Länder die Krise verkraften können und welchen der Zusammenbruch droht.

Ölfeld im Irak (Archivbild)
Foto:ATEF HASSAN/ REUTERS
Die Coronakrise hat die Welt verunsichert, und in den kommenden Monaten könnte sich das Gefühl der Unsicherheit zuspitzen. Ein Grund dafür ist der fallende Ölpreis, der in mehr als einem Dutzend Ländern weltweit eine Abwärtsspirale in Gang zu setzen droht, die Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zerrütten könnte.
Niedrige Ölpreise haben immer wieder zur Destabilisierung ganzer Weltregionen beigetragen. In den Achtzigerjahren beschleunigte ein Preisverfall den Niedergang der Sowjetunion, deren Staatshaushalt stark vom Erdölexport abhing. 2014 bis 2016 kam es zu sozialen Unruhen in Nahost und Westafrika, als die Ölpreise fielen.
Petro-Staaten halten ihre Bevölkerung oft mit hohen Sozialausgaben bei Laune, zum Beispiel mit billigem, subventioniertem Benzin. Fallen die Ölpreise, müssen Regierungen solche Maßnahmen oft stoppen - was Spannungen provoziert. Kommen weitere destabilisierende Faktoren hinzu - ein rasches Bevölkerungswachstum, eine Rezession, eine ohnehin angezählte Regierung oder wie derzeit eine Pandemie – drohen politische Krisen. Und, in der Folge, neue Flüchtlingsströme in Richtung USA und Europa.
Derzeit stehen die Ölpreise, je nach Sorte, bei 15 bis 20 Dollar pro Barrel (159 Liter) - und damit so tief wie seit den Neunzigerjahren nicht mehr. Laut Kirsten Westphal von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin könnten die Folgen des Preisverfalls "die heftigsten seit Jahrzehnten sein" - weil manche der betroffenen Staaten mit mehreren Krisen zugleich kämpfen.
Der SPIEGEL hat Kennziffern, Prognosen und Berichte zur Lage in den wichtigsten Petro-Staaten ausgewertet. Den Daten zufolge lassen sich die betroffenen Länder in vier Risikoklassen einteilen: die Resilienten, die Abgepolsterten, die Gefährdeten und die Katastrophenfälle.
1. Die Resilienten

Ölplattform vor der brasilianischen Küste
Foto: A2609 epa efe Marcelo Sayao/ dpaZu den resilienten Staaten, die das Ölpreistief vergleichsweise gut wegstecken dürften, zählen große Industrienationen wie die USA, Kanada, China, Norwegen und Brasilien. Sie exportieren zwar große Mengen Öl, verfügen aber gleichzeitig über eine diversifizierte Wirtschaft: Der Beitrag der Ölindustrie zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) macht nur wenige Prozent aus.
Firmen aus Ländern wie Brasilien und Kanada fahren aufgrund des Preistiefs derzeit hohe Verluste ein. Denn die Förderkosten für Öl liegen in diesen Ländern drei- bis fünfmal höher als in vielen Staaten des Nahen Ostens. Für die Volkswirtschaften insgesamt indes fällt der niedrige Ölpreis nicht so stark ins Gewicht.
Auch Mexiko gehört zur Gruppe der Resilienten, hat aber das Sonderproblem, dass der staatliche Mineralölkonzern Pemex massiv verschuldet ist – was das Kreditrating des Landes bedroht . Es würde für den Staat also tendenziell teurer, fehlende Einnahmen aus Ölexporten mit neuen Schulden zu kompensieren.
2. Die Abgepolsterten

Opec-Gipfel im saudi-arabischen Riad (Archivbild)
Foto: A2800 epa Jamal Nasrallah/ dpaLand | Anteil Ölförderung am BIP* | Ausgeglichener Etat bei Ölpreis von** | Defizit 2020*** | Reserven in Staatsfonds**** |
---|---|---|---|---|
Katar | 14,2% | 45$ | 0% | 335 Mrd. $ |
Kuwait | 36,6% | 54$ | -11,3% | 529 Mrd. $ |
Russland | 6,4% | 51$ | -4,8% | 124 Mrd. $ |
Saudi-Arabien | 23,1% | 74$ | -12,6% | 320 Mrd. $ |
Vereinigte Arabische Emirate | 13% | 61$ | -11% | 697 Mrd. $ |
Zu dieser Kategorie zählen Länder, die vom Preisverfall zwar hart getroffen werden, weil ihre Volkswirtschaften zu einem erheblichen Teil von Öleinnahmen abhängen – die es sich aber im Prinzip leisten können, ohne allzu große soziale Härten durch die Krise zu kommen.
Länder dieser Kategorie sind Kuwait, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Sie erwarten im laufenden Jahr teils zweistellige Defizite, verfügen aber gleichzeitig über Hunderte Milliarden Dollar schwere Staatsfonds. Ihre Schuldenstände sind zudem vergleichsweise niedrig, sie können sich bei Bedarf leicht frisches Geld am Kapitalmarkt leihen.
In Risikokategorie zwei fällt auch Saudi-Arabien, der drittgrößte Ölexporteur der Welt. Auch in diesem Land sind vorerst keine sozialen Verwerfungen zu erwarten. Unterm Strich dürfte der niedrige Preis für Saudi-Arabien allerdings schmerzhafter sein als für seine reichen Nachbarländer.
Saudi-Arabien produziert mehr Öl als Kuwait, Katar und die VAE zusammen. Die Regierung in Riad braucht einen vergleichsweise hohen Ölpreis von 74 Dollar pro Barrel, um ihren Haushalt ausgeglichen zu halten. Der aktuelle Ölpreis von rund 20 Dollar reißt ein Loch von rund 600 Millionen Dollar in den Etat – jeden Tag.
Einen Teil dieser Verluste wollen die Saudis aus ihren gewaltigen staatlichen Rücklagen ausgleichen, einen weiteren Teil durch neue Schulden . Gleichzeitig sollen die Staatsausgaben gekürzt werden. "Stark betroffen dürfte ausgerechnet jener Bereich sein, der die Wirtschaft des Landes eigentlich unabhängiger vom Öl machen soll", sagt SWP-Expertin Westphal. Etwa der Ausbau der Ökostrom-Technik. Und so dürfte die derzeitige Preiskrise das Land auch in seiner mittelfristigen Entwicklung zurückwerfen.
Ähnlich hart getroffen ist Russland, die zweitgrößte Exportnation der Welt. Der Etat des Kremls wird nach Schätzungen fast zur Hälfte von Öleinnahmen gespeist. Nach Angaben des russischen Finanzministers Anton Siluanov wären die staatlichen Rücklagen von 124 Milliarden Dollar Ende 2020 zur Hälfe aufgezehrt, wenn der Ölpreis weiter im Tief feststeckt. Gleichzeitig wertet der russische Rubel in Ölpreiskrisen oft ab – was hilft, das Haushaltsdefizit in Grenzen zu halten.
3. Die Gefährdeten

Dorf in Nigeria nahe einer Ölförderstätte
Foto: GEORGE ESIRI/ REUTERSZu Risikoklasse drei zählt unter anderem Oman. Die Regierung in Muskat ist stark vom Öl abhängig, verfügt aber nur über geringe Rücklagen. Sie dürfte sich schwertun, soziale Härten abzufedern.
Um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten, wird die größtenteils junge Bevölkerung bisher oft mit Jobs in einem der 34 Ministerien versorgt. Entsprechend hoch sind die Staatsausgaben. Zur Finanzierung des Haushalts braucht Oman eigentlich einen Ölpreis von rund 85 Dollar, für das laufende Jahr wird nun mit einem Defizit von 17 Prozent gerechnet. Ob alle Staatsangestellten all ihre Löhne erhalten, scheint ungewiss.
Das Sultanat dürfte zudem auch mittelfristig unter der Ölpreiskrise leiden: Seine Ölvorräte gehen zur Neige, die Wirtschaft soll eigentlich diversifiziert werden, zum Beispiel durch den Bau einer riesigen Raffinerie . Nun fehlt dafür das Geld.
In Iran ist die Situation noch prekärer. Die Ölproduktion hat sich wegen der US-Sanktionen seit 2017 ohnehin etwa halbiert ; nun verdient der Staat auch noch immer weniger an diesem kläglichen Rest.
Der Zugang zum Kapitalmarkt ist dem Land weitgehend verstellt, die Wirtschaft durch die Sanktionen geschwächt. Obendrein ist Iran vom Coronavirus stark befallen, darf aber manche Medizinprodukte wegen der Sanktionen nicht importieren.
Die staatlichen Rücklagen scheinen nicht zu reichen, um diese multiple Krise zu managen: Das Land hat erstmals seit der Revolution im Jahr 1979 beim Internationalen Währungsfonds Hilfen von fünf Milliarden Dollar angefragt .
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft sieht Iran vor dem "wirtschaftlichen Kollaps" und appelliert an die EU, die Regierung in Teheran zu unterstützen. Andernfalls drohten eine humanitäre Katastrophe und eine schwere Störung der ohnehin angespannten diplomatischen Beziehungen.
In Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, drohen bereits politische Unruhen. Der Staat, der seinen Haushalt angeblich zur Hälfte durch Ölgewinne deckt , rechnet mit einer tiefen Rezession, plant Budgetkürzungen und erwägt, Sozialleistungen zu streichen .
Die Einsparungen sind auch nötig, um Nahrungsimporte weiter zu finanzieren, ohne die der Staat seine rund 205 Millionen Einwohner nicht ernähren kann. Die Arbeitslosigkeit indes dürfte steigen . Das würde viele unter 25-Jährige treffen, die 63 Prozent der Bevölkerung stellen. Die Regierung gilt als instabil . Das Gemisch all dieser Faktoren wirkt brandgefährlich für das westafrikanische Land.
Soziale Verwerfungen drohen auch in Angola. In dem südwestafrikanischen Land machte die Ölproduktion 2017 rund 15,8 Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Der Staatsetat, der auf Basis eines Ölpreises von 55 Dollar kalkuliert worden war, ist nicht zu halten. Die Inflationsrate könnte auf bis zu 24 Prozent steigen, schreibt die Economist Intelligence Unit, ein Analysedienst der Zeitschrift "Economist". Da ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung noch immer in Armut lebt, dürften die sozialen Folgen verheerend sein. Immerhin: Die innenpolitische Lage in Angola wird von Experten stabiler eingeschätzt als in Nigeria.
Ebenso verheerend ist der niedrige Ölpreis für Ecuador. Die Ratingagentur Fitch hält das hoch verschuldete Land im Norden Lateinamerikas bereits für teilweise bankrott . Denn Ecuador kann wegen des niedrigen Ölpreises und einem vergleichsweise starken Corona-Ausbruch seine Schulden nicht mehr komplett bedienen. Eigentlich müsste die Regierung bis Mitte Juli 811 Millionen Dollar Zinsen für Staatskredite zahlen; nun wurde die Fälligkeit dieser Verbindlichkeiten in den August verschoben .
Je länger Corona- und Ölpreiskrise andauern, desto größer wird die Gefahr eines kompletten Staatsbankrotts. Für die rund 17 Millionen Einwohner und die rund 400.000 Geflüchteten aus Venezuela sind das düstere Aussichten. Die Hilfen aus dem staatlichen Sozialfonds dürften sinken, die seit 2017 ohnehin zunehmende Verarmung der Bevölkerung dürfte sich beschleunigen.
4. Die Katastrophenfälle

Bürgerkrieg in Libyen (2019)
Foto: MAHMUD TURKIA/ AFPVollends verheerend ist der Verfall des Ölpreises für Krisenstaaten wie Libyen und Syrien, die kaum oder keinen Zugang zum Kapitalmarkt haben und die Einnahmen aus dem Ölexport dringend benötigen, um nicht völlig von Terror oder Spaltungsbewegungen zersetzt zu werden.
Auch der Irak fällt in diese Kategorie. Das Land steckt in einer tiefen Regierungskrise. Es hat bislang einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung mit Jobs in Behörden in Arbeit gehalten – musste nun aber ankündigen, dass die Hälfte der Gehälter von Staatsangestellten nicht mehr ausgezahlt werden können. Die sozialen Unruhen dürften sich verstärken. Zudem fehlt nun Geld, um Kämpfer des "Islamischen Staats" unter Kontrolle zu halten, von denen sich noch immer Tausende im Land aufhalten sollen.
Algerien zählt ebenfalls zu den Katastrophenfällen. Die stark umstrittene Regierung erkauft sich seit Langem die Gunst von Teilen der Bevölkerung mit teuer finanzierten Sozialprogrammen. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft reichen seit Jahren nicht, um den Anstieg der Staatsschulden zu stoppen. Umso wuchtiger trifft die Ölpreiskrise nun das Land. Die Regierung erwartet ein Defizit von 20 Prozent . Die staatlichen Rücklagen dürften zum Jahresende zu 90 Prozent aufgezehrt sein . Die International Crisis Group schätzt , dass der Regierung in etwa einem Jahr das Geld ausgehen könnte. Gleichzeitig ist eine Protestbewegung namens Hirak im Aufwind. Die sozialen Unruhen in Algerien drohen sich deutlich zu verschärfen.
In Venezuela droht sich die humanitäre Katastrophe zu verschlimmern. Das Land befindet sich ohnehin seit Jahren in einer wirtschaftlichen und politischen Krise - nun kommen auch noch die Coronakrise und die Ölpreiskrise hinzu. Die Inflationsrate ist außer Kontrolle. Lebensmittel werden knapp, Geschäfte werden geplündert, das Gesundheitssystem ist teilweise zusammengebrochen. Es gibt Spekulationen, der Preisverfall am Ölmarkt könnte den Sturz von Präsident Nicolás Maduro einleiten, doch das könnte sich auch als Wunschdenken seiner Gegner herausstellen. Klar ist nur: Das Leid der Bevölkerung dürfte weiter zunehmen.