Fehler im Corona-Krisenmanagement "Es ist ganz viel über angeblich fehlende Beatmungsgeräte geredet worden"

Patient an Beatmungsgerät (mit Dialysegerät im Vordergrund): "Mensch Meier, das leisten unsere Pflegekräfte jeden Tag."
Foto: Peter Kneffel/ DPASPIEGEL: Wie sind wir aus Sicht einer der größten Kliniken Europas bisher durch die Coronavirus-Krise gekommen?
Reichenspurner: Es wurden die guten wie die schlechten Seiten unserer Krankenhäuser schonungslos offengelegt. Zunächst das Positive: Vielen dämmert jetzt, dass wir in Deutschland im Vergleich mit unseren Nachbarländern ein sehr gutes Gesundheitssystem haben. Wir waren aufgrund der Qualität der Intensivmedizin wahrscheinlich so gut auf diese Krise vorbereitet wie kein anderes Land.
SPIEGEL: Und das Negative?
Reichenspurner: Was nicht gut lief und läuft: Es geht nicht nur um die reine Kapazität, also etwa Intensivbetten, sondern auch darum, dass wir ausreichend Pflegekräfte haben, um die Patienten in diesen Betten auch gut zu betreuen. Wir haben schon zu normalen Zeiten Engpässe. Aber in einer solchen Krise hat das eine ganz andere Dimension.

Hermann Reichenspurner ist Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hat seine herzchirurgische Ausbildung in München, Kapstadt und an der Stanford-Universität absolviert und ist spezialisiert auf moderne und minimalinvasive Behandlung von Herzerkrankungen, etwa die endoskopische Klappenchirurgie. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Herz- und Lungentransplantation und die Implantation von Kunstherzsystemen. Reichenspurner ist in vielen nationalen und internationalen Fachgesellschaften aktiv, darunter in der International Society for Heart and Lung Transplantation.
SPIEGEL: Was haben Sie erlebt?
Reichenspurner: Das Pflegepersonal musste während der Krise unglaublich schwer schuften. Man darf nicht vergessen, wie hart die Arbeit in diesen Zeiten ist. Die Covid-Patienten sind extrem aufwendig zu pflegen. Man trägt eine Schutzkleidung, eine FFP2-Maske, die ziemlich furchtbar zu tragen ist, davor noch ein Plexiglasvisier. Und mit dieser Montur muss körperliche Schwerstarbeit geleistet werden, es geht ja schließlich um Intensivpatienten. Die müssen gehoben, gewendet, gedreht oder sauber gemacht werden. Ich selbst habe mal erlebt, wie einem der Schweiß in dieser Montur runterläuft. Da denkt man sich dann: "Mensch Meier, das leisten unsere Pflegekräfte jeden Tag."
SPIEGEL: Es hieß überall, wir hätten zu wenige Beatmungsgeräte. War das gar nicht das entscheidende Problem?
Reichenspurner: Völlig richtig. Es ist ganz viel über Intensivbetten und über angeblich fehlende Beatmungsgeräte geredet worden. Die wichtigere Frage nach ausreichend Pflegekapazitäten wurde nur sehr selten gestellt, weil Politiker und die meisten "Spezialisten" nicht wissen, wie ein Krankenhaus funktioniert. Auf dem Höhepunkt der Pandemie haben wir alle Pflegekräfte mobilisiert, die wir hergeben konnten - vom OP, vom Herzkatheterlabor und von überall sonst. Mit unserem Intensivpflegepersonal allein hätten wir schon die erste Welle nicht bewältigen können.
SPIEGEL: In Fernsehserien wird gern das Bild verbreitet, dass sich das Pflegepersonal eher um die emotionalen Wehwehchen der Patienten kümmert.
Reichenspurner: Das ist eine absolute Farce. Es geht eigentlich nur darum, welche Schwester mit welchem Arzt flirtet, was für ein Niveau! Das spiegelt überhaupt nicht die Realität wider, schon gar nicht die auf einer Intensivstation. Auch auf einer Normalstation herrscht viel Druck. Zwei, drei Pflegekräfte sind im Schichtdienst, und die betreuen da in einer Nacht um die 20 Patienten. Es bleibt keine Zeit, über Ärzte zu lästern. Es fehlt das Personal an allen Ecken.
SPIEGEL: Haben wir denn wirklich einen Pflegekräftemangel oder einfach zu viele Krankenhausbetten?
Reichenspurner: Es stimmt, dass wir in Deutschland mehr Krankenhausbetten haben im Vergleich mit europäischen Nachbarländern. Ich kann mich sehr gut erinnern, dass England immer damit geprotzt hat, dass sie über das zentral gesteuerte System des Gesundheitssystems NHS mit viel weniger Betten auskommen würden. Da kann ich nur sagen: Das hat die Pandemie nicht bestätigt. Betten allein zählen nicht, es geht vor allem um das Personal. Für mich sind deshalb zwei Punkte wichtiger: Wie kann man die Arbeitsbedingungen für die Pflege verbessern, und wie kommt sie zu einer besseren Bezahlung?
SPIEGEL: Bei Forderungen nach mehr Gehalt werden die Kostenträger sofort zurückfragen: Wer soll das bezahlen?
Reichenspurner: Es muss natürlich refinanziert werden. Ich denke, es geht um eine Gehaltserhöhung von mindestens 20 Prozent, und die können die Krankenhäuser unter keinen Umständen allein stemmen. Das geht nur über die Krankenkassen, und die werden höhere Beitragssätze von den Versicherten brauchen. Aber wir sprechen da über zumutbare Erhöhungen für den Einzelnen. Kosten dürfen kein Totschlagargument sein, denn sonst haben wir das Problem, dass wir in naher Zukunft einfach keine Pflege mehr haben in dem Maße, wie wir sie brauchen.
SPIEGEL: Warum nicht bei den Ärzten sparen und es den Pflegekräften geben?
Reichenspurner: Ganz offen und ehrlich gesprochen: Das ärztliche Gehalt ist in Deutschland fast überall tariflich und in meinen Augen gut geregelt. Ein Assistenzarzt verdient nicht die Welt, aber ausreichend. Bei den Chefärzten sind die Gehälter limitiert worden, niemand verdient da mehr grenzenlos. Ein Arzt kann sich auch in Hamburg oder München die Miete leisten. In der Pflege ist das ganz anders. Jemand, der heute als Pflegekraft in Hamburg anfängt, hat vielleicht 2800 Euro brutto. Das Gehalt steigt erst, wenn man Schichtzulagen bekommt, im OP oder auf der Intensivstation arbeitet. So weit muss man aber erst mal kommen. Der Grundtarif in der Pflege ist dringend verbesserungsbedürftig.
SPIEGEL: Oft heißt es ja, die Wertschätzung sei entscheidend. In der Coronakrise ist für Pflegepersonal geklatscht worden, es gab eine Einmalzahlung für Corona-Helden, und in vielen Talkshows war das Thema Pflegekräftemangel präsent. Was muss neben der besseren Bezahlung noch passieren?
Reichenspurner: Wertschätzung ist manchmal sehr einfach und passiert trotzdem zu wenig. Bei uns im Herzzentrum sind es Kleinigkeiten, wir reden vom Grüßen und vom Bedanken. Pflegekräfte sind mit uns Ärzten absolut auf Augenhöhe. Das ist ein Beruf, ohne den wir völlig machtlos wären. Sie können weder als Arzt auf Station noch im OP noch auf einer Intensivstation irgendwas ausrichten ohne die Pflege. Ich predige das vom Chefarzt bis zum Assistenzarzt jeden Tag.
SPIEGEL: Das sieht nicht jeder Arzt im Alltag so wie Sie.
Reichenspurner: Mancher Arzt macht den Fehler zu glauben, dass er automatisch ein besseres Wissen zur Behandlung des Patienten habe, nur weil er Medizin studiert hat. Dabei steckt jeder Intensivpfleger mit 15 Jahren Berufserfahrung einen jungen Assistenzarzt in die Tasche. Ich finde, ein Medizinstudent sollte ein halbes Jahr Pflegetätigkeiten nachweisen müssen, bevor er in den Arztberuf gehen darf. Das haben übrigens viele Ärzte in meiner Generation so gemacht, auch um sich ihr Studium zu finanzieren.
SPIEGEL: In den vergangenen 25 Jahren wurden in Deutschland rund 625.000 Pflegekräfte ausgebildet, davon haben aber schätzungsweise 335.000 den Beruf verlassen. Liegt das nur an den Arbeitsbedingungen und der Bezahlung oder hat das auch andere Gründe?
Reichenspurner: Oft sind es Kinder und der Wunsch, sich um sie zu kümmern. Aber es gibt auch viele, die den Pflegeberuf verlassen, weil sie mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden sind und weil es ihnen einfach zu viel wird. Pflege ist ein so anstrengender Beruf, dass manche Alternativen suchen und dann zum Beispiel bei einer Krankenversicherung oder in der Pharmaindustrie arbeiten, wo sie auch besser bezahlt werden. Spricht man dann nach einiger Zeit mit den Aussteigern, höre ich oft, dass sie die Patienten vermissen. Sie sagen dann, dass sie gern geblieben wären, wenn sie besser bezahlt worden wären.
SPIEGEL: In Krankenhäusern geht es dem Pflegepersonal ja noch vergleichsweise gut. In Heimen oder in der ambulanten Pflege ist die Bezahlung ja oft übler. Was kann man dagegen tun?
Reichenspurner: Das muss genauso angegangen werden. Aber ich kenne die genaue Situation in diesen Bereichen zu wenig.
SPIEGEL: Würden Sie heute jungen Menschen noch empfehlen, in die Krankenpflege zu gehen?
Reichenspurner: Absolut. Der Beruf ist nicht das Problem, es sind wie gesagt die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung. Ärzte und andere Berufsgruppen haben starke Gewerkschaften, die sich um ihre Belange kümmern. In der Pflege vermisst man das einfach. Pflegedirektionen sind oft in einer Doppelrolle. Ihr Herz schlägt für die Pflege, aber sie müssen auch das Wohl des Hauses im Blick haben, weil sie im Vorstand in Verantwortung stehen. Hier sehe ich uns Ärzte in der Pflicht. Wir haben einen objektiveren Blick auf die Probleme und müssen uns hinter die Pflege stellen und für unsere Kollegen eintreten.
SPIEGEL: Kann sich das Verhältnis nicht schon bald umkehren durch Digitalisierung? Ärztliche Aufgaben könnten schneller durch kluge Software ersetzt werden als pflegerische Kompetenzen.
Reichenspurner: Ja, das kann sein, aber die pflegerische Komponente, also auch die menschliche Seite, wird man nicht so einfach durch einen Computer ersetzen können. Die wird immer bestehen bleiben. Ich sehe es eher so: Der Pflege kommt auch im Zeitalter der Digitalisierung sogar eine besondere Bedeutung zu.
SPIEGEL: Sind Patienten in Deutschland zu arztgläubig und wollen ihr Leid lieber Ärzten klagen als Pflegekräften?
Reichenspurner: Das ist schon richtig. Aber auch da gibt es einen Wandel. Patienten fragen Pflegekräfte mehr und mehr auch Medizinisches. Die Pflegekräfte sehen sie ständig, den Arzt nur zwei, drei Mal am Tag. Letztlich steht und fällt das aber alles damit, dass Ärzte und Geschäftsführer von Krankenhäusern das Pflegepersonal anständig behandeln und respektieren. Dann werden sie automatisch auch von den Patienten als kompetente Ansprechpartner ernst genommen.