Cambridge-Ökonom Chang Der Marktungläubige

Ökonom Chang: "Ich bekomme viel mehr Einladungen als früher"
Foto: Luca Bruno/ APSchon die Zugfahrt zu Ha-Joon Chang nach Cambridge schafft Sympathie für dessen Thesen. Sie wird nicht nur vom landestypischen Regen überschattet, sondern auch vom notorisch komplizierten Bahnsystem. Für jeden Abschnitt muss das Ticket eines anderen Anbieters gekauft werden, die Züge sind zu spät, das Abfahrtsgleis wird erst in letzter Minute angezeigt. Dabei sollte doch alles besser werden. Damals, Mitte der achtziger Jahre, als Margaret Thatcher die Privatisierung der Bahn und anderer Staatsbetriebe vorantrieb - und der Südkoreaner Ha-Joon Chang in einer fremden Welt landete.
"Ich kam auf dem Höhepunkt der Thatcher-Revolution nach England", erinnert sich Chang an seine Ankunft als 23-jähriger Student. Die konservative Thatcher glaubte an die Weisheit des Marktes , den Staat sah sie als Bedrohung. Die Ökonomen, bei denen Chang sein Handwerk lernen sollte, teilen diese Meinung. "Ich konnte nicht glauben, wie feindselig die Menschen Staatseingriffen gegenüberstanden."
Mehr als zwei Jahrzehnte später sitzt Chang in einem kleinen, mit Büchern vollgestopften Zimmer in Cambridge. Der bräunlich-graue Teppich wirkt, als stamme er aus Thatchers Zeiten und Chang kann seine Herkunft immer noch nicht verleugnen. Das englische "th" spricht er bis heute als hartes "t" aus. Doch seine Aussagen lassen es nicht an Deutlichkeit vermissen - vor allem wenn es um die Hohepriester freier Märkte geht: "Obwohl sie es dermaßen vermasselt haben, sind sie immer noch da."
Chang ist ein Marktungläubiger. Kein Kapitalismusgegner, aber einer, der freie Märkte für eine Illusion hält. Seiner Ansicht nach mischt sich jeder Staat in die Wirtschaft ein, und das zu Recht. Dass Länder auf die Selbstregulierung von Unternehmen und Kapital setzen, hält Chang für einen gefährlichen Irrtum.
Diese Sichtweise hat stark an Popularität gewonnen. Aus dem koreanischen Studenten, der mit seiner neuen Heimat fremdelte, ist eine angesehener Cambridge-Dozent geworden - spätestens mit der Finanzkrise.
Derivate will Chang verbieten
Changs Trumpf steht im Regal: Das Buch "23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen", habe sich weltweit inzwischen mehr als 600.000-mal verkauft, sagt er. "Das sind normalerweise die Verkaufszahlen von Romanautoren, nicht Ökonomen."
Als Autor vertritt Chang klare Thesen, das erklärt einen Teil des Erfolgs. Hinter der Krise sieht er Ökonomen, die mit der Komplexität ihrer eigenen Modelle überfordert waren und sich deshalb für hochgefährliche Finanzinstrumente starkmachten. "Man stelle sich vor, ein Pharmakonzern würde ein Medikament namens Finanzderivate erfinden, welches Millionen Menschen tötet", sagt Chang. "Die Firma würde geschlossen und das Medikament verboten." Genau das müsse mit allen Derivaten geschehen - bis ihre Unschädlichkeit bewiesen ist.
Harte Forderungen in einem Land wie Großbritannien, das sich unter Thatcher von der herkömmlichen Industrie abwendete und stattdessen auf die Finanzindustrie der Londoner City als nächste Wachstumsbranche setzte. Doch auch dort finde er mittlerweile Gehör, sagt Chang. Das Problem seien nach wie vor seine Kollegen. "Viele Ökonomen haben keine Ahnung, was in der Wirtschaft passiert."
In seinen Büchern geht Chang kritisch mit einem der wichtigsten Dogmen der Marktwirtschaft ins Gericht: Der Freihandelstheorie, die vor rund 200 Jahren vom britischen Ökonomen David Ricardo geprägt wurde. Ihr zufolge profitiert ein Land selbst dann vom Handel, wenn der Handelspartner alle Produkte billiger herstellen kann als es selbst. Denn durch die Arbeitsteilung kann sich jedes Land auf jene Produkte konzentrieren, die es im Vergleich am günstigsten herstellen kann, insgesamt steigt so der Wohlstand.
Nach Changs Ansicht versagt dieses Modell, wenn ein Land seine Wirtschaft weiterentwickeln möchte. In diesem Fall müssten Unternehmen vorübergehend von der internationalen Konkurrenz abgeschirmt werden - und genau das haben laut Chang selbst vermeintliche Freihandelsvorreiter wie die USA oder Großbritannien lange getan. So soll US-Präsident Ulysses Grant gesagt haben: "In 200 Jahren, wenn Amerika alles aus der Protektion herausgeholt hat, was sie zu bieten hat, wird es auch den freien Handel übernehmen."
Ähnlich sahen es Politiker in Changs Heimat. Als er Anfang der sechziger Jahre geboren wurde, lag das südkoreanische Durchschnittseinkommen auf dem Niveau von Ghana, zu den wichtigsten Exportgütern zählten Fisch und Echthaarperücken. Mittlerweile haben sich die Einkommen vervierzehnfacht, Konzerne wie Samsung oder Hyundai exportieren hochmoderne Handys und Autos.
Hinter der Erfolgsgeschichte steht keine Liberalisierung aus dem Lehrbuch. Vielmehr hat Südkorea Schlüsselbranchen durch Exportsubventionen und sehr hohe Zölle so lange gefördert, bis sie auf dem Weltmarkt bestehen konnten. Auch mit den Urheberrechten nahm das Land es lange nicht so genau - wofür Chang heute dankbar ist. Bei einem Großteil seiner englischen Schulbücher in Südkorea handelte es sich um Raubkopien. "Ohne diese illegalen Bücher hätte ich es nicht geschafft, in Cambridge angenommen zu werden und zu überleben."
Kampf um die Leiter
Nach Changs Ansicht müssen auch heutige Entwicklungsländer ihre Wirtschaft schützen. Doch die Industrieländer hätten ihnen einen Freihandel aufgezwungen, dem sich die entwickelten Staaten selbst lange verweigerten. Damit treten die Reichen den Armen "die Leiter weg", auf der sie selbst aufgestiegen sind, glaubt Chang. Die Formulierung hat er vom deutschen Ökonomen Friedrich List übernommen, der damit im 19. Jahrhundert den Aufstieg der Briten kritisierte.
Wie aber könnte der von Chang geforderte Protektionismus aussehen? Wer soll festlegen, wie viel Abschottung nötig ist und wie viel Staat? Schließlich nützen Schutzzölle oft nur riesigen, unrentablen Industriezweigen, die sich damit von der Konkurrenz abschotten. Zudem lässt sich das Elend vieler Entwicklungsländer gerade durch einen Mangel an Marktwirtschaft erklären: Ihre Kleinbauern haben keine Chance gegen die Überproduktion von Lebensmitteln, die die USA und EU mit ihren Agrarsubventionen fördern.
Chang sagt, grundsätzlich sollten die Handelsschranken für arme Länder am höchsten sein und mit wachsendem Einkommen abgebaut werden. Zwar gibt es in den WTO-Regeln schon heute Sonderregeln für ärmere Länder. Laut Chang differenzieren diese jedoch zu wenig und verhindern Rückzieher, falls sich ein Land mit der Liberalisierung übernommen hat.
Der Ökonom glaubt außerdem, dass in der Zukunft Staatseingriffe akzeptiert sein könnten, die wir heute noch ablehnen. Schließlich hätten auch die Abschaffung von Sklavenhandel und Kinderarbeit einst als gefährlicher Eingriff in den Markt gegolten. Heute sei es hingegen selbstverständlich, dass Regierungen diese Art von Geschäften verhindern.
Die Zeit der ganz großen Marktgläubigkeit ist auch in Großbritannien vorbei. Auf dem Weg zurück - es regnet noch immer, doch immerhin ist der Zug diesmal pünktlich - bleibt reichlich Zeit für die Lektüre der "Daily Mail". Die Boulevardzeitung berichtet von einem Besuch der Queen bei der britischen Notenbank, wo ein junger Finanzexperte das Versagen seiner Zunft verteidigte. Elizabeth erwiderte ungerührt, die Verantwortlichen seien vor der Krise offenbar "ein bisschen lax" gewesen, außerdem hätte die Finanzaufsicht "keinerlei Zähne" gehabt. Dann schaute Queen Elizabeths Gatte Prinz Philip den Ökonomen stechend an und schnauzte: "Macht das nicht noch einmal!"