Querschnittsgelähmte Rentner wider Willen

Mann im Rollstuhl: Immenser Druck der Kranken- und Rentenversicherung
Foto: Friso Gentsch/ picture alliance / dpaBerlin - Tausende Male hat Rainer Abel diesen Satz gesagt: "Du wirst nie mehr laufen können". Der Chef einer Bayreuther Spezialklinik, der auch Samuel Koch nach dessen Unfall in "Wetten, dass...?" behandelte, kümmert sich seit 18 Jahren um Menschen mit Querschnittslähmung. Hunderte Wirbelsäulen hat er schon zusammen geflickt. Zahlreichen Patienten hat er mitteilen müssen, dass ihre Blase und ihr Darm gelähmt bleiben. Dass sie in die Hose machen werden.
Am schlimmsten ist aber, wenn der 49 Jahre alte Orthopäde Schicksal spielen muss. Wenn er in einem Gutachten darüber entscheiden soll, ob ein Patient je wieder arbeiten kann. Abel muss einschätzen, wie fit ein Querschnittsgelähmter noch für den Arbeitsmarkt ist. Die Krankenkassen fordern solche Gutachten sehr schnell, manchmal schon wenige Wochen nach dem Unfall. "Viele Patienten kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht seriös beurteilen", sagt Abel.
Die Kassen aber drängen zur Eile. Sie müssen das teure Krankengeld zahlen, das 72 Prozent des Brutto-Gehalts ausmacht. Ihr Ziel: Die querschnittsgelähmten Patienten schnell an die Rentenversicherung abzugeben. Und auch die Rentenversicherung macht es den Querschnittsgelähmten nicht immer leicht, zumindest für ein paar Stunden pro Tag ins Berufsleben zurückkehren.
Sozialverbände wie der Vdk berichten von einer generellen Praxis der Krankenkassen, immer früher und schneller eine Entscheidung über die Zukunft eines Patienten einzufordern. Ein Vorgehen, das Querschnittsgelähmte besonders hart trifft. Denn die Betroffenen brauchen nach ihrem Unfall Zeit, um sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Zeit, die ihnen nicht immer gewährt wird.
Millionen Menschen sind heutzutage mit dem Thema Querschnittslähmung vertrauter denn je, nachdem sie das Schicksal von Samuel Koch live am Fernseher verfolgt und den Kinofilm "Ziemlich beste Freunde" gesehen haben. Sie wissen jetzt viel über die Tragik solcher Unfälle. Was die meisten jedoch nicht wissen: "80 Prozent der Querschnittsgelähmten könnten nach einer Erholungsphase wieder arbeiten", sagt der Bayreuther Arzt Abel. Doch durch den Druck der Krankenkassen drohe den meisten von ihnen die Rente. "Und wer einmal verrentet ist, bei dem ist der Zug abgefahren", sagt Abel. Der Schritt zurück ins Arbeitsleben sei dann verbaut.
Versicherungsexperte Hans-Peter Schwintowski von der Humboldt-Universität Berlin kann ein derartiges Vorgehen nicht verstehen: "Ein Mensch, der nach einem schweren Unfall in die Frührente geschickt wird, obwohl er noch arbeiten könnte, wird aus meiner Sicht noch einmal zusätzlich diskriminiert und damit endgültig auf das Abstellgleis gestellt. Ein solches Vorgehen erscheint mir auf jeden Fall menschenunwürdig."
"Die Rentenversicherung will mir nicht helfen"
Volker Künzel wollte auf jeden Fall zurück ins Arbeitsleben. Der 52 Jahre alte Familienvater war im Sommer 2010 mit seinem Rennrad kopfüber in eine vier Meter tiefe ungesicherte Baugrube gestürzt. Er ist seitdem vom vierten Brustwirbel abwärts gelähmt und kann nur noch Kopf und Arme bewegen. Nach rund einem Jahr Behandlung kehrte der Werkzeugmacher an seinen alten Arbeitsplatz zurück. Doch zwei Monate nachdem Künzel langsam wieder begonnen hatte zu arbeiten, erhielt der Querschnittsgelähmte ein Schreiben von seiner Rentenversicherung, dass er nun Frührentner sei.
Schon sieben Wochen nach seinem schweren Unfall hatte die Krankenkasse Künzels Frau angesprochen. Sie wollte eine schnelle Entscheidung, ob Künzel wieder arbeiten könne oder besser gleich in Rente gehen solle. Die Krankenkassen begründen ihr rasches Vorgehen mit dem Wohl und Interesse des Patienten. Sinn und Zweck sei es, dass rechtzeitig und schnell geeignete Maßnahmen eingeleitet würden für den Betroffenen. Auch müsse man sehen, dass die Zahlung von Krankengeld zeitlich begrenzt sei.
Arzt Abel, der auch Künzel behandelte, ließ sich Zeit mit dem von der Krankenkasse geforderten Gutachten, um die Fortschritte seines Patienten gründlich beurteilen zu können. Doch die Rentenversicherung wollte nicht warten - und sie hat das letzte Wort. Künzel wurde von ihr als "voll erwerbsgemindert" eingestuft und verrentet. Zwei Stunden am Tag darf er nun höchstens zur Arbeit gehen, ohne dass ihm Abzüge von seiner Rente drohen. Künzel ist sich sicher: "Die Rentenversicherung will mir gar nicht helfen, wieder mehr arbeiten zu können."
Mit solchen Schicksalen ist Andreas Berghammer vertraut. Er ist als Sozialarbeiter in der Bayreuther Spezialklinik von Doktor Abel dafür zuständig, Querschnittsgelähmte durch das Wirrwarr zwischen Krankenkasse und Rentenversicherung zu leiten. "Wir glauben, dass die Rentenversicherung eine reine Kostenrechnung durchführt", sagt Berghammer. Ihr Kalkül: Teure Hilfsmaßnahmen für querschnittsgelähmte Patienten rechnen sich nicht, wenn diese es dann doch nicht schaffen, mehr zu arbeiten. Die Rentenversicherung muss bezahlen, wenn etwa ein Arbeitsplatz behindertengerecht umgebaut wird. Damit sich diese Investition für die Versicherung rechnet, soll der Querschnittsgelähmte im Gegenzug auch eine bestimmte Stundenanzahl ableisten. Doch dafür gibt es keine Garantie - ein Risiko, dass die Rentenversicherung nicht gerne eingeht.
"Müssen sorgfältig mit Beitragsgeldern umgehen"
Die Rentenversicherungen widersprechen dieser These. Mit Mathematik habe ihr Vorgehen nichts zu tun, es sei eine Einzelfallentscheidung aufgrund von medizinischen Gutachten, sagt Claudia Weidig von der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern. Doch eines sei klar: "Es macht natürlich keinen Sinn, einen Arbeitsplatz behindertengerecht auszustatten, wenn er nicht gefüllt wird. Wir müssen sorgfältig mit den Beitragsgeldern unserer Versicherten umgehen."
Deswegen sind die Verhandlungen mit den Rentenversicherungen, die für die Reha und die Hilfen zum beruflichen Wiedereinstieg zuständig sind, oft schwierig. In manchen Fällen zahlen sie nicht einmal eine Zugangsrampe für Rollstuhlfahrer vor dem Haus. Ein behindertengerechtes Auto für den Weg zur Arbeit ist auch selten drin. Den Lift zum Ruheraum am Arbeitsplatz gibt es erst ab einer gewissen Stundenzahl am Tag.
Das Problem: Sollte der Betroffene nach einiger Zeit merken, dass er die zusätzlichen Stunden doch nicht schafft, gibt es oft keinen Weg zurück mehr. Die Rentenversicherung kann sich schlicht weigern, den alten Rentensatz wieder zu zahlen. Deshalb verharren viele Querschnittsgelähmte resigniert in der Frührente.
Künzel will es trotzdem probieren. Sein Ziel ist es, bald vier Stunden täglich zu arbeiten. Dafür hat er sich sogar ein 4500 Euro teures Handbike zugelegt, das er seinen "Mercedes" nennt. Er spannt das Rad vor seinen Rollstuhl und treibt es mit den Armen an, damit er alleine zur Arbeit fahren kann. Um sein Haus und sein Auto rollstuhltauglich zu machen, brachte Künzel rund 25.000 Euro auf - aus eigener Tasche. Von der Rentenversicherung hat er bislang keinen Cent gesehen.