Rekord-Finanznot in NRW Stadt, Land, Schluss

Stillgelegtes Stahlwerk in Duisburg: Real existierender Irrsinn der Politik
Foto: Sean Gallup/ Getty Images"Da, sehen Sie das?", fragt der Mann am Steuer. Sein Zeigefinger schnellt nach vorn, über das Lenkrad hinweg, er zielt durch die regennasse Scheibe auf eine Verkehrsinsel. "Überall Unkraut", ruft der Mann, "da kriege ich die Krätze, das sieht doch aus wie in der DDR." Er legt den ersten Gang ein und fährt langsam an, noch immer heftig den Kopf schüttelnd. Allmählich zieht das Ärgernis vorüber.
Rainer Häusler, mittelgroß, drahtig, agil, ist Kämmerer der Stadt Leverkusen, seit 16 Jahren macht er den Job, und man kann nicht sagen, dass es ein leichter wäre. Noch nie in seiner Amtszeit hat Häusler einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können. Seit neun Jahren ist seine Heimatstadt so sehr verschuldet, dass er sich jede Position von höherer Stelle genehmigen lassen muss. Ist Häusler frustriert? "Wir leben in spannenden Zeiten", sagt er.
Wenn man mit Häusler durch Leverkusen streift, erlebt man einen Überzeugungstäter. Einen, der im Gespräch sofort Statistiken vorlegt, Folien und Diagramme herzeigt, weil er "die Wahrheit sagen will, die den Leuten ansonsten verschwiegen wird".

Kämmerer Rainer Häusler (r.) mit seinem Sohn Martin: "Wir müssen Verzicht lernen"
Foto: Heide HäuslerHäuslers Wahrheit ist die Geschichte vom Abstieg der alten Bundesrepublik. Den Städten und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen geht es ziemlich dreckig, der Strukturwandel macht ihnen zu schaffen und auch der real existierende Irrsinn der Politik. Nur acht der 427 NRW-Kommunen zwischen Aachen und Minden können ihren Haushalt ausgleichen. In vielen der übrigen zeichnet sich mittlerweile eine finanzielle Situation ab, wie sie die Deutschen nur aus Griechenland zu kennen glaubten.
Rainer Häusler hat deswegen gemeinsam mit seinem Sohn Martin ein Buch geschrieben, das den markanten Titel trägt: "Deutschland stirbt im Westen." Untertitel: "Wie die Arroganz der Macht und der ungerechte Ost-Soli unsere Städte in den Ruin treiben." Das Buch ist Häuslers große Abrechnung mit dem System und mit den angeblich lebensfernen Europa- und Bundespolitikern, die den Kommunen immer mehr Lasten aufbürden und ihnen zugleich die Einnahmen kürzen.
Ein Beispiel, mit dem der Sozialdemokrat Häusler gerne argumentiert, ist die Betreuung von unter Dreijährigen in Kindergärten, auf die vom kommenden Jahr an alle Familien einen gesetzlichen Anspruch haben. Das Projekt sei von Bund und Land auf dem Rücken der Kommunen beschlossen worden, sagt er, ohne dass ausreichende Gelder bereitgestellt worden seien. "Der Vorstoß kostet uns Millionen, die wir nicht haben. Im Bürgerlichen Gesetzbuch", zürnt Häusler, "sind solche Geschäfte zu Lasten Dritter verboten." In der Politik dagegen sind sie Standard. Schon der frühere Finanzminister Hans Eichel (SPD) erkannte: "Die jeweils höhere staatliche Ebene hält sich auf Kosten der nächstniedrigeren schadlos."
Empörung, Wut, Entsetzen? Fehlanzeige!
Deshalb lässt sich in den Kommunen bereits besonders gut beobachten, wie die Gesellschaft auseinanderdriftet: Die Reichen werden reicher, die Armen nicht nur ärmer, sondern auch mehr. Während auf Bundesebene seit 2008 mehr als ein Dutzend steuerentlastende Gesetze verabschiedet wurden, muss der Staat ganz unten in Deutschland immer häufiger für seine Bürger in die Bresche springen. In Leverkusen stiegen seit dem Jahr 2000 die Sozialausgaben um 64 Prozent von 84 Millionen auf 137 Millionen Euro. Die Steuereinnahmen der Stadt wuchsen im selben Zeitraum nur um sieben Prozent von 184 Millionen auf 196 Millionen Euro.
Im kommenden Jahr werden in Leverkusen den Gesamtausgaben von 484,2 Millionen Euro nur 400,9 Millionen Euro Einnahmen gegenüberstehen. Den Rest muss sich die Stadt leihen, meist in Form sogenannter Kassenkredite (mehr dazu auf Wikipedia hier ). Diese sind eigentlich für eine kurzfristige Refinanzierung gedacht, ähnlich wie ein Dispokredit für Normalbürger. Doch inzwischen nehmen hochverschuldete Kommunen die Darlehen auch für langfristige Finanzierungen auf. Besonders häufig tun sie das in NRW: Im Jahr 2010 betrugt das Volumen von Kassenkrediten bundesweit rund 41 Milliarden Euro. Allein die Hälfte davon entfiel auf das westlichste Bundesland - obwohl dort weniger als ein Viertel der Bundesbürger lebt.
Also versucht Leverkusens Kämmerer Häusler seit geraumer Zeit gegen die Ausgabenflut anzusparen: Die Verwaltung wurde um 600 Mitarbeiter verkleinert, das brachte 30 Millionen Euro. In Sport und Kultur strich die Stadt 20 Millionen Euro. Außerdem schloss man drei Schwimmbäder, löste Bürgerbüros auf, riss das Rathaus ab, stellte den Bücherbus ein, gab die Stadtgärtnerei auf, legte Schulbibliotheken zusammen, privatisierte die Eishalle und dünnte Buslinien aus. Gleichzeitig stieg die Grundsteuer um 18 Prozent. Empörung, Wut, Entsetzen bei den Bewohnern? Fehlanzeige.
Die Leverkusener nehmen es mit großer Gleichgültigkeit hin, dass rostige Stahlstreben die Mauern am Rande der Stadtautobahn stützen - weil die Stadt sich auf Jahre eine Reparatur der maroden Straße nicht leisten kann. Sie sehen hinweg über die verwildernden Grünstreifen und stören sich insgesamt nur wenig an dem Zustand ihres immer schwächer werdenden Gemeinwesens - jedenfalls gibt es keine Protestzüge oder Demonstrationen. "Vielleicht", fragt sich Häusler, der sich durchaus einen Aufstand der Anständigen wünschte, "geht es uns immer noch zu gut?"
Allerdings weiß der 64-Jährige, dass der Wohlstand von gestern, dessen Ausläufer er bis zur Pensionierung im kommenden Jahr noch verwalten darf, die Not von morgen sein wird. Oder anders gesagt: Dass die Generation seiner Kinder für die Schuldenpolitik von heute bezahlen wird, mit Arbeitslosigkeit, hohen Steuern, mit geringeren staatlichen Leistungen, größeren sozialen Spannungen, mit einem Ende des friedlichen Lebens im Wohlstand. So wie es in Griechenland, Spanien und Italien bereits der Fall ist.
Kann es eine verantwortungsvolle Politik geben?
"Wir müssen Verzicht lernen", sagt Häusler, der den Menschen die Wahrheit zumuten will. Die Frage ist nur, wann eine Gesellschaft dazu in der Lage ist, zur Wahrheit und zum Verzicht. Wenn sie wie Griechenland mit dem Rücken zur Wand steht, wenn die Gläubiger den Politikern die Pistole auf die Brust setzen. Erst dann? Oder kann es eine vorausschauende Politik geben, die verantwortungsvoll wirtschaftet und die den Bürgern sagt, wie es wirklich um ihr Land steht?
Häusler hofft darauf. Doch er weiß auch, wie in den vergangenen Jahrzehnten agiert wurde, als die Wirtschaft im Westen noch brummte, als noch niemand in Nordrhein-Westfalen vom Strukturwandel sprach und als in Leverkusen der Chemie-Gigant Bayer im Zweifel ein paar Millionen mehr springen ließ für ein öffentliches Großprojekt. Heute nutzt der internationale Konzern ganz legale Steuersparmöglichkeiten und zahlt seine Abgaben zu großen Teilen im Ausland.
"Der Wohlstand hat unseren Blick dafür getrübt, was wir uns auf Dauer wirklich leisten können", sagt Häusler, der nicht besonders selbstkritisch ist. All die öffentlichen Schwimmbäder, die die Großstädte in NRW heute schließen lassen, sind irgendwann auch einmal von Politikern beschlossen und mit Steuergeld gebaut worden. Damals dachte niemand daran, dass diese Hallenbäder auch in einigen Jahrzehnten noch beheizt und repariert werden müssen. Den Miesmachern, die an so etwas erinnerten, wollte schon früher niemand zuhören.
"Manchmal stehen wir uns auch selbst im Weg"
Besonders empörend findet Häusler - wie viele seiner nordrhein-westfälischen Amtskollegen - den immer noch gültigen Solidarpakt. "Wir müssen uns das Geld leihen, um es dann in den Osten zu überweisen", beschreibt der Kämmerer die Situation. Bis 2019 wird allein Leverkusen mehr als 200 Millionen Euro in den Fonds gezahlt haben - obwohl das Girokonto der Stadt zuletzt mit 157 Millionen Euro überzogen war. Finanzexperte Häusler plädiert daher dafür, die große Umverteilung nicht mehr pauschal nach Himmelsrichtungen vorzunehmen, sondern nach tatsächlicher Bedürftigkeit.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Wildwuchs auf den Verkehrsinseln, die Rainer Häusler tagtäglich beschäftigt. Eigentlich wollte er knapp zwei Dutzend Hartz-IV-Empfänger damit beauftragen, die Flächen zu pflegen. Doch so einfach ist das in Deutschland nicht. Weil es sich nämlich von Gesetz wegen um Leiharbeiter einer Tochterfirma der Stadt gehandelt hätte, musste der Personalrat dem Vorhaben zustimmen. Und der verlangte von jedem Langzeitarbeitslosen nicht nur einen Lebenslauf, sondern auch ein anschließendes Vorstellungsgespräch.
"Manchmal", seufzt Häusler, "stehen wir uns auch selbst im Weg."