Trotz Merkel-Versprechen Warum die Rente mit 70 kommt - aber anders heißen wird

Rentnerpaar vor dem Reichstag in Berlin
Foto: Stephan Scheuer/ picture alliance / dpaDrei Wochen vor der Bundestagswahl haben sich die Parteien in den TV-Debatten einen Schlagabtausch geliefert. Erst trat SPD-Chef Martin Schulz gegen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Ring, am Montag dann stritten beim "Fünfkampf" die Spitzenkandidaten der anderen Parteien.
Bei einem Thema blieb aber nicht nur das Duell aus, auch der Fünfkampf war keiner: Die Rede ist von der Rente. Bei der Frage, ob das Renteneintrittsalter weiter erhöht werden müsste, formierte sich eine ganz große Koalition gegen die "Rente mit 70".
"Es wird definitiv keine Änderung am Thema Rente mit 67 geben. Es steht überhaupt keine Veränderung in Sicht", versichert Joachim Herrmann (CSU).
Cem Özdemir von den Grünen findet, nur wer "länger arbeiten will, soll es tun".
"Bei mir wird es sie ganz sicher nicht geben, die Rente mit 70", betont Martin Schulz.
Angela Merkel wiederum gibt auf Nachfrage ("Sicher, dass wir nicht bis 70 arbeiten müssen") zu Protokoll: "Ganz sicher. Da ändert sich überhaupt nichts."
Und selbst Christian Lindner von der sonst als wirtschaftsnah geltenden FDP müht sich, möglichst viel Raum zwischen seine Position und die verfluchte 70 zu bringen. Er sei "völlig gegen die Debatte um ein festes Renteneintrittsalter. Ab 60 sollen die Menschen die Freiheit haben, in die Rente zu wechseln".
Wirtschaftswissenschaftler kritisieren die Festlegungen der Parteien. Von "Wahltaktik" spricht Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die Rente mit 70 auszuklammern, schade der deutschen Gesellschaft. Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht das genauso: "Die demografische Entwicklung, die verlängerte Lebenszeit, machen ein späteres Renteneintrittsalter notwendig. Anders kann das System nicht finanziert werden."
Wer hat recht: Ökonomen oder Politiker?
Die Funktion der gesetzlichen Rentenversicherung fußt auf einem im Prinzip schlichten System, dem Umlageverfahren. Die Jüngeren zahlen Beiträge ein, von denen umgehend die Renten der aktuellen Rentner-Generation bezahlt werden. Rücklagen gibt es nicht, Ausnahme ist eine Reserve von höchstens 1,5 Monatsausgaben. Die aktuellen Ausgaben sind gleich der aktuellen Einnahmen. Das ist eine Schwachstelle.
Das System leidet unter dem Wandel der Bevölkerungsstruktur in Deutschland. Die Zahl der Geburten ist gesunken, damit stehen in Zukunft immer weniger Arbeitskräfte - und damit Beitragszahler - zur Verfügung. Zudem steigt die Lebenserwartung älterer Menschen: In den Sechzigerjahren hatte ein 65-jähriger Mann im Schnitt noch rund zwölf Jahre zu leben, heute sind es 18 Jahre. Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Entwicklung fortsetzen wird, auch dank des medizinischen Fortschritts. Bisher führte diese Entwicklung dazu, dass die Zeit des Rentenbezugs steigt, auf zuletzt durchschnittlich rund 20 Jahre (1957 waren es neun Jahre).
Immer mehr Älteren stehen also immer weniger Jüngere gegenüber. Gemessen wird dieses Verhältnis mit einer Kennziffer, dem sogenannten Altenquotienten. Er ist seit 1990 von 23,9 auf inzwischen mehr als 34 gestiegen.
Im Jahr 2040 werden 100 Jüngeren dann voraussichtlich sogar mehr als 57 Ältere gegenüberstehen. Wirtschaftswissenschaftler verweisen darauf, dass solche Prognosen - trotz des langen Zeithorizonts - keine großen Unsicherheiten aufweisen. Die Zahl der Rentner von morgen ist schon bekannt: Es sind die Beitragszahler von heute. Und aus der heutigen Zahl der Kinder ergibt sich im Wesentlichen das Arbeitskräftepotenzial von morgen.
Die Parteien scheuen den Blick in die Zukunft aber. Das Rentenkonzept, mit dem die SPD in den Wahlkampf gezogen ist, endet wohl nicht zufällig im Jahr 2030: Erst danach wird der demografische Wandel Experten zufolge richtig Fahrt aufnehmen und das Rentensystem auf die schwierigste Phase zusteuern. Dann gehen die "Babyboomer" in Rente, so werden die besonders großen Geburtsjahrgänge bis Mitte der Sechzigerjahre genannt.
Werden die Parteien ihr Wahlversprechen brechen?
Nicht zwangsläufig, jedenfalls nicht sofort. Tatsächlich besteht beim Renteneintrittsalter kein akuter Handlungsbedarf - zumindest nicht in den nächsten vier Jahren. Rentenpolitik ist ein Prozess langsamer Anpassungen, die oftmals Jahrzehnte im Voraus in die Wege geleitet werden. So hat die 2007 beschlossene, letzte Anhebung des Renteneintrittsalters ("Rente mit 67") ihre Wirkung noch gar nicht voll entfaltet. Sie erfolgt schrittweise: Derzeit können Beschäftigte mit 65 Jahren und sechs Monaten in Rente gehen, die Grenze von 67 Jahren wird erst 2030 erreicht.
Welche Parteien nach dem 24. September auch die nächste Regierung bilden werden, das Reizthema Rentenalter könnten sie volle vier Jahre ignorieren - ohne verheerende Folgen für die Rentenversicherung. "Es besteht kein Handlungsbedarf, noch nicht einmal in der Legislaturperiode danach", sagt Rentenexperte Axel Börsch-Supan vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München.
Börsch-Supan hat gewisses Verständnis dafür, dass die Parteien über die "Rente mit 70" nicht reden wollen. Das Thema ist zu unpopulär, viele Menschen haben den Eindruck, ihnen solle etwas vom wohlverdienten Ruhestand weggenommen werden. Um dem zu begegnen, schlägt der Wissenschaftler vor, das Rentenalter in Zukunft automatisch an die Entwicklung der Lebenserwartung zu koppeln: Sollte die Lebenserwartung etwa ähnlich wie bisher um drei weitere Jahre steigen, sollte das Renteneintrittsalter um zwei Jahre steigen. Das Arbeitsleben würde sich so verlängern - Versicherte hätten aber auch ein Jahr mehr Ruhestand.
Diese Flexibilisierung hätte zwei Vorteile: Sollte die Lebenserwartung auch einmal sinken, könnten Beschäftigte automatisch früher in Rente gehen. Und: Politiker, die sich der Reform verschreiben würden, könnten das hässliche Reizwort "Rente mit 70" vermeiden.